Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
lesen noch erahnen konnte, tat da nichts zur Sache.
Der Wind zerzauste Neil das blonde, strubbelige Haar. Die Augen des Jungen waren auf das Schiff gerichtet. Er trug einen blauen Pullover mit Rollkragen und eine dunkelblaue Jacke zu den verblichenen Jeans. Den Kragen hatte er hochgeschlagen. Emily konnte sich gut vorstellen, dass er eines Tages an Bord eines Seglers in See stach. Wie er an Deck stand, mit eben diesem Blick über die Wellenkämme spähte und mit den Augen am Horizont verweilte, während der Wind die Segel aufblähte und das Schiff durch Wellentäler und Wellenberge trieb, weiter und weiter, einem fernen Land entgegen.
»Emily?«
Noch immer saßen sie nebeneinander auf der Holzbank gegenüber dem alten Klipper. Auch Emily hatte den Kragen hochgeschlagen, denn von der Themse her wehte ein scharfer, eisig kalter Wind, der ihr rotes Haar wehen ließ.
»Du grübelst auch, stimmt’s?«
Neil nickte.
»Kann es wirklich sein, dass das alles der Wahrheit entspricht?«
Eine Frage, die Emily sich auch stellte. »Immerhin steht es geschrieben«, sagte sie nur. Nicht zuletzt, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen. Neil und sie waren so tief in die alten Legenden und Geschichten eingetaucht, dass es schwer fiel zu glauben, dass sich jene Ereignisse tatsächlich einmal zugetragen hatten.
Hier oben bei Tageslicht kam das alles den Kindern vor wie ein Traum.
Ein Fiebertraum.
»Wie viele Menschen wissen von dem, was unter uns liegt?«, fragte Emily.
»Von der uralten Metropole?«
»Ja.«
»Viele.«
Emily schaute zum anderen Flussufer hinüber, wo sich die Türme neumodischer Bauten in den Himmel schoben. Die Themse wirkte breiter an dieser Stelle. Tiefer.
London, das wusste Emily nun, war auf einer gefallenen Gottheit erbaut. Dem Ophar Nyx. Beide Namen waren Synonyme für die Nacht. Rabenschwarze Dunkelheit. Ein Gott, der in der Verdammnis lebte und sich die dunklen Gefühle tausender Menschen zu Eigen machte, davon zehrte und sich an ihnen labte. Der Ophar Nyx war der Grund, weshalb uralte Metropolen wie London und einst Londinium überhaupt existierten. Er war die Wurzel der Stadt, und Emily hatte sich die ganze Nacht über bang gefragt, was geschehen würde, wenn der Nyx nicht mehr unter London weilen würde. Sie gedachte der Worte Dorian Steerforths: Wenn die Familie es nicht schafft, sich von dir zu lösen, dann musst du dich von der Familie lösen.
Gehörten Ophar Nyx und London nicht zusammen? Gehörte nicht sogar Lycidas zu dieser Familie aus gefallenen Göttern, Engeln und dem Schicksal Ausgelieferten?
»Wirst du ihnen helfen?«, fragte Neil.
»Lilith zu befreien?«
»Ja.«
»Wir wissen nicht einmal, wo sie steckt.«
Nach einer kurzen Gesprächspause, während der beide wieder zum Fluss blickten und die Wellen dabei beobachteten, wie sie fleißig Unrat ans Ufer spülten, wollte Neil dann doch wissen: »Ist sie wirklich so böse, wie alle behaupten?«
»Ich habe eine Heidenangst vor ihr«, gestand Emily ihm. »Alle Kinder im Waisenhaus hatten panische Angst vor ihr.« Sie hatte ihm von Rotherhithe erzählt. Vor Wochen schon. Neil war im Bilde. »Ihr Gesicht war eine Maske. Weiß geschminkt. Lippen von grellem Rot. Schön, aber herrisch. Schmutzig und elegant. Schneeweiß. Pink. Blond. Niemals hätte ich gedacht, dass sie so alt ist. Dass uralte Schriften von ihr zu künden wüssten. Meine Güte, sie war vom Anbeginn der Welt an da.«
»Wenn man den Schriften Glauben schenken kann.«
»Du hast nie in ihre Augen gesehen. Es ist ein Gefühl, als ob berstendes Eis durch deine Adern fließt, wenn ihr Blick dich auch nur streift. Und wenn sie lächelte, hätte jedes Kind am liebsten vor Verzweiflung aufgeschrien. Sie sind wirklich alt, diese Augen, uralt.« Emily mochte eigentlich gar nicht daran zurückdenken. »Natürlich hätte dir das kein Kind so beschrieben. Wir wussten nur, dass etwas an ihr anders war. Anders. Seltsam. Jetzt weiß ich, dass es ihre Augen waren.«
Was diese Augen wohl alles gesehen hatten?
Im Laufe der Jahrhunderte …
All der Jahre …
Emily schwindelte, wenn sie auch nur versuchte, es sich vorzustellen.
»Emily?«
Ihr fiel auf, dass Neil sie niemals Emmy genannt hatte.
»Ja?«
»Ich werde dir helfen«, sagte er entschlossen.
Richtig heldenhaft, fand Emily.
»Du willst mit nach unten in die Metropole kommen und mit uns nach Lilith suchen?«
Er nickte und fügte mit einem frechen Grinsen hinzu: »Für dich würde ich doch alles
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