Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Ziel, das sie heute, hier und jetzt, zu verwirklichen gedenken. Was immer dieses Vorhaben auch sein mag, wir müssen herausfinden, was hinter all den Geschehnissen steckt.«
»Es gibt keine Zufälle«, entfuhr es Aurora.
»Bitte?«
»Das sagt Wittgenstein immer.«
»So ist er nun einmal. Immer ein tröstendes Wort auf den Lippen. Doch was Sie sagen, ist richtig. Es gibt kaum Zufälle im Leben. Alles folgt seiner Bestimmung.« Er hatte sich zu dem Mädchen hinübergebeugt und geflüstert: »Der Lichtlord wird von den Urieliten nach St. Paul’s verbannt, und in eben diesem Augenblick taucht ein neuer Golem in London auf. Der Lordkanzler von Kensington setzt uns überraschend davon in Kenntnis, dass der Ophar Nyx die inneren Höllenkreise okkupiert. Rahel erscheint mir im Traum. Wären das nicht sonderbare Zufälle?«
Jetzt, als sie alleine durch die langen Korridore des Museums wanderte, spann Aurora diesen Gedankengang weiter.
Emily gerät in der Region in Bedrängnis.
Zufällig tritt ein edler Retter auf.
Der überirdisch schöne »Nennt mich Dorian« Steerforth.
»Wir können davon ausgehen«, setzte Maurice Micklewhite seine Ausführungen fort, »dass Golem und Abgrund irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Nicht zu vergessen die Falle, in die Wittgenstein und die kleine Miss Laing getappt sind. Hymenopteras findet man normalerweise nur in den tiefen Schichten.«
»Nicht zu vergessen das Auftauchen der Rattlinge.«
»Der Angriff auf Mylady Hampstead«, zählte der Elf auf. »Zu guter Letzt bleibt noch das Abtauchen Lord Brewsters zu erwähnen.«
Seit einem Jahr fast hatte niemand mehr die Ratte zu Gesicht bekommen.
Wilde Vermutungen gab es diesbezüglich.
Doch keine Hinweise.
»Zu viele Ungereimtheiten«, entschied Maurice Micklewhite.
»Also doch keine Zufälle?«
Hochgezogene Augenbrauen. »Belieben Sie zu scherzen?«
»Hm.«
Dann hatte Aurora von Emilys Träumen erzählt. Von dem Kontakt zur kleinen Mara, die sich vor ihrer Mutter fürchtete. Auch Mia Mushroom war seit nunmehr einem Jahr nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden.
»Alle diese Dinge hängen zusammen«, folgerte Maurice Micklewhite.
Zufälle gibt es nicht.
Etwas lauerte da draußen.
In den Straßen Londons.
Mushroom Manor versteckte sich im Schatten der hohen Bäume und Eisblumen von Blackheath. Übte sich in Geduld. Und wartete. Doch worauf? Vor einem Jahr hatte es Truppenbewegungen südlich der Shooters Hill Road gegeben. Söldner aus den einstigen Kolonien. Handlanger aus Sussex und Stornoway. Doch war alles ruhig geblieben. Seit einem Jahr schon hielt die Metropole den Atem an und wartete darauf, dass etwas passierte.
In der Hoffnung, dass nichts passierte.
»Alles hängt zusammen.« Unruhig war ihr Mentor in der Bibliothek umhergerannt. »Unsichtbare Fäden verbinden alle Personen und Geschehnisse miteinander, und unsere Aufgabe wird es sein, diese Fäden sichtbar zu machen.«
Gute Worte, dachte Aurora.
Doch genau genommen hatten sie alle sich kaum vom Fleck bewegt.
Einsam hallten die Schritte des Mädchens durch die große Halle mit den Sarkophagen. Etwas würde geschehen in den nächsten Wochen. Ein ungutes Gefühl beschlich Aurora. Emily, das wusste sie, hatte sich verändert. War ernst geworden. Oft dachte die Freundin über ihre jüngere Schwester nach. Viel öfter, als sie es zugab. Und obgleich sie es abstritt, so sehnte sie sich doch nach ihrer richtigen Mutter. Mr. und Mrs. Quilp, das würde keines der beiden Mädchen leugnen, waren wirklich wunderbare Pflegeeltern, doch war dies niemals ein Ersatz für die leiblichen Eltern. Keines der beiden Mädchen fand Eigenschaften, die es an sich selbst sah, bei den Quilps wieder. Und wäre es nicht interessant gewesen, zu sehen, wer einem welche Eigenschaften vererbt hatte? Zu sehen, dass man sich in vielerlei Hinsicht doch wie die eigenen Eltern verhielt, war für viele Kinder eine ganz normale und auch wichtige Erfahrung.
Emily ist meine Familie, dachte Aurora.
Und ich bin die ihre.
Was sie erneut an »Nennt mich Dorian« Steerforth denken ließ.
Sollte sie Emily wirklich davon berichten, dass er sie nicht würde treffen können? Emily schien in letzter Zeit eine Bürde zu tragen, über die sie nur ungern Worte verlor. Dennoch glaubte Aurora, dass es etwas mit ihrer Trickstergabe zu tun hatte. Emily wurde sich immer mehr bewusst, dass sich diese Fähigkeit zum Guten wie auch zum Bösen einsetzen ließ.
»Ich kann den Menschen ihre Furcht
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