Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
nehmen, wenn ich mich konzentriere«, hatte sie einmal erklärt. »Doch ebenso gut kann ich sie in den Wahnsinn treiben. Wittgenstein hat das gesagt, und ich glaube ihm. Ich spüre, dass ich es kann. Wenn ich nur will.« Sie war Aurora in die Arme gefallen und hatte die Tränen unterdrücken müssen. »Und ich habe Angst davor«, hatte sie mit bebender Stimme geflüstert, »dass ich es einmal tun werde.«
Von diesen Gefühlsausbrüchen abgesehen wirkte Emily in letzter Zeit eher reserviert und grüblerisch. Aurora gefiel es gar nicht, dass sie immer mehr Eigenschaften und Verhaltensweisen ihres Mentors anzunehmen schien. Allein die Floskel »Frag nicht« benutzte Emily recht häufig.
Viel zu häufig, wie Aurora fand.
Nun denn.
So beschloss sie, Emily erst einmal nichts von Steerforths Besuch im Museum zu erzählen. Die nächsten Tage und Wochen würde er sowieso nicht in London verweilen, und vielleicht hatte Emily ihn bis zu seiner Rückkehr vergessen. Zumindest würden sich bis zu seiner Rückkehr einige Dinge klären, und alle wären entspannter. Aurora befürchtete nämlich, dass die Nachricht von der Abwesenheit Steerforths ihre Freundin stärker belasten würde, als es in der jetzigen Situation gut für sie war.
Emily war ganz durcheinander.
Und Aurora war sich sicher, dass ihre Freundin verliebt war.
Ein wenig zumindest.
»Was für ein Tag«, seufzte Aurora in die Stille des Museums.
Da musste sie wieder an Little Neil aus dem Raritätenladen denken. An seine fröhliche Art. An den beschwingten Gang und die Mütze, die schief auf seinem Kopf gesessen und das blonde Haar nicht zu bändigen vermocht hatte. Inständig hoffte sie, dass Emily und der Junge Freunde waren. Nicht mehr.
»Zufälle gibt es nicht«, murmelte sie.
Ihr Flüsterton hallte von den Wänden wider.
Nur die ausdruckslosen steinernen Gesichter ägyptischer Götter und Könige waren Zeuge ihres Seufzers.
Dann verließ sie die Ausstellungsräume und kehrte zu ihrem Mentor zurück.
Hoffend und bangend.
Und, ach, so ahnungslos.
Denn das Schicksal, das ihr bevorstand, hätte schrecklicher nicht sein können.
Kapitel 17
Mylady Hampstead
»Es ist deine Pflicht«, betonte Maurice Micklewhite unnötigerweise.
Der Kodex war mir bekannt.
Als Angehöriger des Hauses Hampstead oblag es mir und niemand anderem, die alte Rättin zu töten.
Wir hatten den Engel Rahel im Virgin Store am Piccadilly zurückgelassen und waren so schnell wie möglich in Richtung des Museums geeilt, um die Gefährten von den Neuigkeiten in Kenntnis zu setzen. Dass mich dort eine nicht allzu angenehme Aufgabe erwarten könnte, hatte ich befürchtet – und verdrängt. Voll und ganz hatte ich mich auf des Engels Geschichte konzentriert und einen Plan geschmiedet, wie es uns gelingen könnte, in den Tower von London einzudringen und die Lichtlady zu erwecken.
Schnell würde alles geschehen müssen.
Zudem hoffte ich auf die Hilfe von Morgaine Monflathers.
Denn die Zeit ist ein Raubtier, dem die Langsamen zum Opfer fallen.
Rahel hatte ich versprochen, eine Taube zu entsenden, sobald Ort und Zeitpunkt unseres Aufbruchs festständen. Er wollte uns tatsächlich in die uralte Metropole begleiten, um seine Aufgabe zu erfüllen. Vor den übrigen Urieliten indes würden wir unser Vorhaben geheim halten müssen. Lord Uriel, dem Wahnsinn anheim gefallen, wäre ein grausamer Gegner, sollte es zu einer Konfrontation kommen.
Eiligen Schrittes quälten wir uns nach unserem Treffen mit Rahel durch den Nieselregen nach Bloomsbury hinauf.
Dunkle Wolken hingen über London. Drückten eine graue Niedergeschlagenheit auf die Stadt.
Eisiger Wind wurde zu tosendem Sturm.
Unheil verheißend.
Beiläufig warf ich einen Blick auf das Mädchen, das schweigsam und gedankenverloren neben mir her trottete. Immer noch trug sie die blaue Jacke mit dem Fellkragen, die ich ihr damals bei Marks & Spencer erstanden hatte. Damals, das schien so lange her zu sein. Und doch war in London kaum ein Jahr vergangen, seitdem ich dank Lord Brewster die Bekanntschaft Emily Laings hatte machen dürfen.
Lord Brewster, der vom Angesicht der uralten Metropole verschwunden war, als hätte es ihn niemals gegeben. Rätselhaft und beunruhigend war sein mysteriöses Verschwinden.
Es war kein gutes Omen.
Wieder betrachtete ich Emily, deren rotes Haar über das Mondsteinauge fiel.
»Geht es Ihnen gut?«
Emily sah nicht einmal auf. »Fragen Sie nicht.«
»Darf ich das als ein Nein auffassen?«
»Ja, dürfen
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