Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
und wurde von dem einfahrenden Zug überrollt. Bremsen quietschten. Menschen schrien. Inmitten der Menge gewahrte Emily ein makelloses Gesicht.
I’ve seen that face before
. Mit einem Mal erinnerte sich Emily, doch half dies niemandem mehr.
Aurora Fitzrovia war tot.
Die Welt hörte auf sich zu drehen.
Und Emily Laing sank zu Boden und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Kapitel 19
Snowhitepink
Die Welt ist gierig, und manchmal verdirbt sie einstmals reine Herzen.
»Es tut mir so Leid«, hatte Emily geschluchzt, nachdem sie die ungeheuerliche Tat gestanden hatte. »So Leid.« Mit zerrauften Haaren und dunkel umrandeten Augen war das Kind vor meinem Anwesen in Marylebone aufgetaucht, und das mitten in der Nacht. Erst wenige Stunden zuvor war ich in mein Haus zurückgekehrt. Der Ausflug hinunter in die uralte Metropole hatte einiges an Kraft gekostet. Dennoch hatten wir unser Ziel erreicht, das sei an dieser Stelle angemerkt.
Mylady Lilith weilte wieder unter den Lebenden. Morgaine Monflathers und Maurice Micklewhite hatten sie zum Savoy geleitet, wo sie sich von ihrem fast einjährigen Schlaf würde erholen können.
»Ich habe das nicht gewollt«, hatte Emily geschluchzt, und es hatte mich Mühe gekostet, überhaupt herauszufinden, was ihr widerfahren war.
Den Blick schuldbewusst und verzweifelt niedergeschlagen, hatte sie verloren im Arbeitszimmer gestanden, gleich neben dem riesigen, hölzernen Globus, auf dessen Oberfläche sich das Flackern des Kaminfeuers spiegelte.
»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, fauchte ich sie an.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie haben Miss Fitzrovia verraten!«, warf ich ihr vor. »Eine Freundin, die Ihnen treu ergeben war.«
Müde hatte ich mir die Augen gerieben.
Die Strapazen der letzten Tage – hier oben in London mochten etwa zwei Wochen vergangen sein – steckten mir noch in den Knochen. Zu vieles war geschehen. Wir hatten einen Engel zu Grabe tragen müssen. Das und noch mehr.
Und jetzt diese Tragödie!
Oh, diese Kinder!
Niemals hatte man Ruhe vor ihrer Torheit!
Nur langsam hatte ich mir ein Bild der Geschehnisse machen können. Schluchzend hatte Emily im Sessel neben dem Kamin gesessen und ihr Geständnis gestammelt. Von Liebe hatte das Kind gesprochen. Du meine Güte! Peggotty, die ich zur Unterstützung herbeigerufen hatte, war entsetzt gewesen. Und dennoch hatte sie Mitleid verspürt und Emily in den Arm genommen.
»Ich habe es ja kommen sehen«, lamentierte sie.
»Ja, ja.« Immer sah Peggotty alles kommen.
Die allwissende Haushälterin.
»Was sollen wir jetzt tun?«
Emily war geschwächt. Mitnichten war es ein Zufall gewesen, dass sie ihrer Freundin so aggressiv gegenübergetreten war. Dieser Steerforth war, glaubte man der Beschreibung des Mädchens, ein Aphrodit, der es auf die Mädchen abgesehen hatte. Von größerer Bedeutung war jedoch das, was Emily erst später erwähnen sollte.
»Ich habe ihn gekannt«, sagte sie.
»Wie meinen Sie das?«
Die Melodie:
I’ve seen that face before
.
»Als wir in der Region waren, da habe ich doch durch die Augen des Golems gesehen.« Die Trickstergabe! »Das war kurz bevor die Hymenopteras uns angriffen.« Sie musste schlucken. »Ich habe ein Gesicht gesehen, bevor der Golem das Bewusstsein verlor.«
Dorian Steerforth.
Es war sein Gesicht gewesen.
»Dann ist er derjenige, der den Golem zum Leben erweckt hat«, schlussfolgerte ich.
Peggotty hatte natürlich mit mir geschimpft.
Als könnte ich etwas dafür, dass Emily Laing mit einem Aphroditen liebäugelte.
»Sie hätten besser auf sie aufpassen müssen!«
»Oh, Peggotty. Bitte!«
Was hätte ich denn noch alles tun sollen?
»Diese Blutsauger!«, hatte Peggotty geschimpft.
Wenngleich auch überaus hübsch Anzuschauende.
Doch dieser eine hier schien eine bedeutendere Rolle zu spielen. Auch wenn er sich von der Zwietracht der beiden Mädchen nährte, die er zweifelsohne recht rege geschürt hatte, schien dies alles doch kein Zufall zu sein. Er hatte etwas mit dem Golem zu tun und folglich, glaubte man den Theorien Maurice Micklewhites, zwangsläufig auch mit Mushroom Manor.
»Es tut mir so Leid«, flüsterte Emily erneut, wobei sie am ganzen Körper zitterte.
Niemand hätte den Verrat, den Emily begangen hatte, voraussehen können.
»So Leid …«
»Bleiben Sie hier«, bat ich sie und versicherte: »Ich werde im Raritätenladen vorbeischauen und den Jungen herschicken.« Dann brachte ich ihr heißen Tee, den sie dankbar und mit verweinten Augen
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