Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
entgegennahm. Schließlich rief ich im Savoy an und vereinbarte ein Treffen für den kommenden Tag.
Jetzt eile ich durch London.
In der Nacht hat es leicht geschneit. Wieder einmal erstarrt die Welt vor unseren Augen. Müde verlasse ich die Underground am Leicester Square. Die Spuren des Unfalls vom vergangenen Nachmittag sind bereits beseitigt. Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier vor wenigen Stunden ein junges Mädchen den Tod gefunden hat. Den Kragen hochgeschlagen beschleunige ich meine Schritte. Eisiger Wind umfängt mich, die Abgase der Autos bilden wirbelnde Nebel, die dicht über dem nass glänzenden Asphalt tänzeln.
So stapfe ich meines Weges.
Denn ich muss jemanden treffen.
Jemanden, der vielleicht eine Lösung weiß.
Unterwegs mache ich im alten Raritätenladen am Cecil Court Halt und verlange nach dem Jungen, der blass wird und dem die Tränen in die Augen treten, als er die Neuigkeiten erfährt. Ich schicke ihn zu meinem Anwesen nach Marylebone, wo Emily hoffentlich auf ihn wartet.
»Ich vertraue Ihnen«, sage ich.
Little Neil, wie Emily ihn oft genannt hat, nickt nur.
Traurig.
Er hat den Ernst der Lage erkannt.
Es gibt keine Zufälle, denke ich, als ich die Charing Cross Road hinabeile.
Es schmerzt, an die Worte der alten Rättin zu denken.
Ich betrete die Nationalgalerie vom Trafalgar Square aus. Schnellen Schrittes begebe ich mich in den Ostflügel. Vor dem
Heuwagen
, dem berühmten Bild von John Constable, werde ich bereits erwartet.
Die blasse Frau erhebt sich von ihrem Platz auf der Besucherbank und kommt auf mich zu. Das blonde Haar ist streng zusammengebunden. Sie trägt Mantel und Handschuhe. Ein schmaler Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Kaum verwunderlich, dass sich die Kinder im Waisenhaus vor diesem Lächeln fürchteten.
»Sie wirken besorgt, lieber Wittgenstein«, begrüßt sie mich.
Mürrisch antworte ich: »Fragen Sie lieber nicht!«
Ich betrachte das kleine Gemälde an der Wand. Licht und Schatten eines typischen englischen Sommertages. Dann berichte ich der einstmaligen Madame Snowhitepink von den schlimmen Neuigkeiten der Stunde.
»Hoffnung«, sagt sie schließlich, »gibt es immer.«
Und als wir die Nationalgalerie nach einem langen Gespräch verlassen und hinaus ins winterliche London treten, da bemerke ich erst, dass es erneut zu schneien begonnen hat.
Buch III
Zwischenspiel:
Whitechapel anno 1889
Es begann, und niemals würde Eleonore Manderley dies vergessen, im Eastend.
Reizbar und wankelmütig war der Pöbel, war es immer schon gewesen in der Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss. So war es nicht verwunderlich, dass die Funken, die die Morde eines gewissen Jack the Ripper geschlagen hatten, rasch zu einem lichterlohen Feuer entflammten.
Mit einer Kundgebung in Whitechapel fing es an.
Damals, vor so langer Zeit.
Die Aufstände, darin würden sich später die Geschichtsschreiber einig sein, begannen im Eastend.
Niemals würde Mylady Manderley die Nacht vergessen, in der man ihren geliebten Gatten in das Anwesen im Regent’s Park brachte, so bleich und kalt auf einer Bahre liegend, dass er gar nicht mehr wie der Mann aussah, den sie einst geheiratet hatte. Seine Kehle war zerfetzt. Von einer langen, scharfen Klinge, die, wie man ihr später mitteilte, elfischen Ursprungs gewesen sei. Blutüberströmt und befleckt von nassem Lehm hatte man den Leichnam im Schlafzimmer aufgebahrt, in den blendend weißen Laken des Ehebettes, weil Eleonore es so gewünscht hatte. Niemals würde sie jene Stunden vergessen. Die Dienerschaft, die hektisch und ratlos umherlief und wehklagte. Master Micklewhite und Inspektor Abberline, die bestürzt nach Manderley Manor geeilt waren, sobald sie von der Neuigkeit Kunde erhalten hatten. Die heuchlerische Kondolenz des Hauses Mushroom, die eintraf, nachdem Master Micklewhite – und er war beileibe nicht der Einzige gewesen – eine Vermutung geäußert hatte, die auch Mylady insgeheim schon gehegt hatte. Der verzweifelte Aufschrei der jungen Mia, die ins Schlafgemach ihrer Eltern gestürzt kam, wo man den Leichnam des Vaters vom Blut und Lehm zu reinigen versucht hatte. In die Arme ihrer Mutter war sie gesunken, schluchzend und zitternd. Eleonore hatte sie gehalten, an sich gedrückt und keine Miene verzogen. Sie war nun die Herrin von Manderley Manor und all den Ländereien, die dazu gehörten, und es stand ihr nicht zu, in einem Augenblick wie diesem Schwäche zu zeigen. Mia, ihre arme Tochter, vergoss ausreichend
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