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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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hinabkletterte, das schreiende Bündel, von dem sie noch nicht wusste, dass es ihre Schwester war, fest im Griff. Wie naiv Emily damals doch gewesen war und wie wenig sie von der Welt gewusst hatte.
    »Wir sollten gehen«, schlug Aurora nach einer Weile vor.
    Wie lange sie dort gestanden hatten … keines der beiden Mädchen würde es später sagen können.
    »Ja, lass uns gehen. Und nicht zurückschauen.«
    Durchnässt hatten sie den Bahnhof von Rotherhithe erreicht und die East London Line hinauf nach Whitechapel genommen. Emily erinnerte sich der Nacht ihrer Flucht, als sich die Türen des Zuges hinter ihr geschlossen hatten und sie so inständig gehofft hatte, das Richtige getan zu haben.
    Jetzt war sie nicht allein.
    Aurora saß neben ihr.
    Sah sie an.
    Lächelte ihr treues Lächeln.
    Die Hammersmith & City Line brachte die Kinder bis hinauf nach Bloomsbury, wo sie nach dreiviertelstündiger Fahrt durch die Grenzgebiete der uralten Metropole – die regulären Tunnel der Underground waren nichts anderes – in
Ruskin’s Coffee Shop
in der Tottenham Court Road No. 41 strandeten, sich Suppe und gefüllte Kartoffeln bestellten und den Nachmittag gemütlich ausklingen lassen wollten. Draußen hetzten die Passanten durch den Regen, mit mürrischen Gesichtern und schief gehaltenen Regenschirmen trotzig dem stärker werdenden Sturm die Stirn bietend.
    Müde waren die Mädchen.
    Die Suppe wärmte sie.
    Zum ersten Mal seit Wochen dachte Emily daran, dass Weihnachten nahte und sie noch gar keine Geschenke gekauft hatte. Welch sonderbarer Gedanke dies doch war. Bei all den Dingen, die in letzter Zeit geschahen, auch noch an Weihnachtsgeschenke denken zu müssen.
    Ein Schatten riss sie schließlich aus dem Grübeln.
    Jemand stand neben dem Tisch.
    »Ah, die Damen lassen es sich gut gehen.«
    Beide Mädchen sahen auf.
    Und da stand er.
    Schüttelte den Regen aus Schirm und Mantel und strich sich das Haar glatt.
    Und lächelte, wie nur er es konnte.
    Dorian Steerforth.
    »Ein garstiges Wetter ist das da draußen«, sagte er und sah von einem Mädchen zum anderen. »Dürfte ich den Damen Gesellschaft leisten?« Augenblicklich zog er sich einen Stuhl heran und ließ sich nieder, woraufhin er sich Emily zuwandte. »Ich habe Sie gesucht, Emily.«
    »Ach ja?«
    »Ja.«
    Er warf Aurora einen Blick zu.
    Dessen Bedeutung Emily nicht ganz klar war.
    »Ja, vor Tagen schon«, wiederholte Steerforth. »Ich möchte Sie einladen.«
    Emilys Herz frohlockte.
    Sie hatte es gewusst!
    »Zu einer Feier im engsten Kreise«, fuhr er fort.
    Aurora indes würdigte er keines Blickes mehr.
    Der Kellner kam und brachte einen Kaffee.
    Dorian Steerforth zeigte sein entwaffnendstes Lächeln und verkündete: »Heiraten werde ich.«
    Emily starrte ihn an.
    Die Welt begann sich zu drehen.
    »Und ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie an diesem Freudentag mein Gast wären.« Bevor Emily etwas entgegnen konnte, ergriff er ihre Hand. »Ich flehe Sie an, mir diese Bitte nicht abzuschlagen.«
    Emily wusste gar nicht, wie ihr geschah.
    Selbst das Atmen fiel ihr auf einmal schwer.
    Schließlich hörte sie sich antworten: »Das ist … toll.« Wie dämlich! »Ich freue mich natürlich für Sie.«
    Und Steerforth sagte etwas, das Emily zuerst gar nicht verstand: »Wie ich bereits Ihrer Freundin mitteilte, würde ich mich sehr freuen, Sie beide begrüßen zu dürfen. Unzertrennliche Freundinnen sollte man auch an einem Freudentag nicht trennen.« Dann lächelte er, und zum ersten Mal fand Emily, dass dieses Lächeln grausam anzusehen war.
    Was ging hier vor?
    Ganz durcheinander sah sie Aurora an, die betreten schwieg.
    Irgendwie sieht sie ertappt aus, dachte Emily.
    »Sie haben meine Nachricht doch ausgerichtet?«, hakte Steerforth nach, wobei er zum ersten Mal seit seinem Eintreffen das Wort an Aurora richtete. »Wir sind uns nämlich im Museum begegnet«, wandte er sich erneut Emily zu, die ganz bleich geworden war. »Doch leider waren Sie mit Ihrem Mentor am Piccadilly, wie mir Ihre Freundin mitteilte.« Wieder das entwaffnende Lächeln. »Ihre Freundin hier war so nett, mir bei Kaffee und Tee Gesellschaft zu leisten.« Er zwinkerte Aurora zu, die wie versteinert dasaß.
    Emily spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte.
    Mit einem Mal fürchtete sie, sich übergeben zu müssen.
    Trotzdem brachte sie ein Lächeln zustande. »Ja, natürlich hat sie es ausgerichtet.«
    »Dann werden Sie kommen?«
    Auroras Hände zitterten, so viel konnte Emily

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