Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Tränen für beide.
»Der Senat wird jetzt eingreifen müssen«, hatte Master Micklewhite der Mylady gesagt.
Doch hatte sie es von Anfang an besser gewusst.
»Der Senat«, hatte sie erwidert, »wird sich zurückhaltend äußern und die Gerechtigkeit um des Friedens willen vernachlässigen.«
Als hätte es anders kommen können.
Allein Master Micklewhite hatte den Mut besessen, klare Worte zu sprechen. Geerntet hatte er jedoch, abgesehen vom Respekt Mylady Manderleys, nur Empörung. Eine Klage wurde gegen ihn eingereicht, von niemand Geringerem als Lord Mordred Mushroom, der sich gegen die Anschuldigungen verwahrte.
Die Wochen vergingen.
Sand rann durch das Stundenglas.
Und der Senat gefiel sich in Tatenlosigkeit.
Abberline und Micklewhite fahndeten indes unverdrossen weiter. Die beiden kamen dem Golem auf die Schliche, was der mutige Inspektor mit dem Leben bezahlte. Doch obwohl der Golem und mit ihm Jack the Ripper gestorben waren, lebten die Gerüchte fort. Im Eastend, wo viele Geschäfte die Handschrift Mushroom Manors trugen, gab es oft erzürnte Debatten über die Anschuldigungen, die Micklewhite im Senat vorgebracht hatte. Manderley Manor, da waren sich die meisten sicher, glaubte diesen Vorwürfen und vertrat sie ebenfalls. Wenngleich jedermann in der uralten Metropole wusste, dass sich die beiden Häuer seit alters eher feindlich gesinnt waren, so war es doch eine Sache, sich mit aggressiven Geschäftstaktiken zu bekämpfen und zu versuchen, den Rivalen im harten, aber naturgegebenen Wettbewerb zu übervorteilen, doch eine völlig andere, dem Gegner einen Mord aus Profitgier zu unterstellen. Die Bewohner der Ländereien Manderley Manors hingegen waren überzeugt von der Skrupellosigkeit der Mushrooms und davon, dass dem Haus aus Blackheath kein Weg zu verwerflich sei, als dass man ihn beschreiten könne. Jedermann glaubte an die Schuld der anderen Partei. So sehr, dass die eigenen Nöte und Sorgen ihren Ausdruck in dem felsenfesten Glauben fanden, dass das jeweils andere Haus schuldig sei. Immer wilder wurde das Gerede, immer keifender die Darstellungen.
Schließlich eskalierte die Situation.
Nicht einmal eine richtige Kundgebung war es gewesen. Eher die typische Eigenart der Londoner, sich auf einen öffentlichen Platz zu stellen und loszulegen, sobald man eine Meinung zu bekunden hatte. So geschah es, dass ein Hasstiraden schreiender Sympathisant des Hauses Mushroom von einem Pflasterstein niedergestreckt wurde, den ein erzürnter Anhänger Manderley Manors aus der Zuhörerschaft geworfen hatte. Augenblicklich kam es zu einem wütenden Handgemenge, in dessen Verlauf der Steinwerfer mit einer Klinge zwischen den Rippen endete.
So hatte es begonnen.
Unspektakulär.
In der Scarborough Street.
Augenblicklich hatte der Pöbel Blut geleckt, als hätte er schon lange darauf gewartet. Er teilte sich in Gruppen, die lärmend durch Whitechapel und dann auch durch andere Stadtviertel zogen. All dies geschah aus der spontanen Laune des Augenblicks heraus. Denn der Mob war ein Tier. Er zerschlug die Fenster der Geschäfte, die zum Besitz der Manderleys gehörten, verwüstete die Einrichtungen, plünderte die Kassen, tötete die Inhaber. Deren Angehörige taten es den Mushroom-Anhängern gleich. Es wurde gebrandschatzt, gemordet und gemetzelt. Die durch London ziehenden Gruppen schwollen unterwegs immer mehr an, wie ein Fluss, der dem Meer entgegenfließt. Die Mordlust verbreitete sich wie ein Fieber, furchtbar und alles verschlingend; wie ein Wahn, der noch gar nicht richtig zum Ausbruch gekommen war, ergriff das Toben Stunde um Stunde neue Opfer, und in ihrer Raserei machte die Masse vor nichts Halt. Sie überflutete die Tunnel der uralten Metropole, wo man mit langen Hellebarden und großen Balken, rostigen Nägeln und spitzen Haken in den Fäusten aufeinander losging und bald niemand mehr wusste, worum es eigentlich ging. Bald schon hatte ein jeder Verluste zu beklagen und wollte Rache üben für den Mord an den eigenen Angehörigen. Mushroom-Anhänger stürmten das Gefängnis von Newgate und befreiten die Gefangenen. Die vielen Rädelsführer der blutigen Krawalle lenkten die Menge schließlich hinauf nach Bloomsbury und Fitzrovia, nach Westminster und Chelsea, wo die Wohnungen bekannter Geschäftsleute und Adeliger verwüstet und geplündert wurden. Weitere Gefängnisse wurden in Brand gesteckt und aufgebrochen. Eine Nacht lang schien es, als sei die Welt des Rechts und der Strafe aus den Angeln
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