Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
er mein Freund ist? Nein!«
»Und Neil?« Emily musste grinsen, weil Aurora sichtlich nervös wurde.
»Auch nicht.«
»Warum?«
Jetzt war es an Aurora, ein Gesicht zu ziehen. »Frag nicht«, sagte sie gespielt genervt.
Beide Mädchen genossen es in den zwei Wochen, bevor das Schicksal auf so grausame Weise zuschlug, ein gewöhnliches Leben führen zu dürfen. Sie tuschelten über Schule, Mode und Jungs, wie es abertausende anderer Mädchen in ihrem Alter auch taten. Es war der Geschmack eines Lebens, das sie sich immer ersehnt hatten.
Doch dann kam der Tag, an dem Lilith befreit wurde.
Jener Tag, an dem mich die Hiobsbotschaft erreichte.
Zwei Tage vor Weihnachten.
Und es war noch immer kein Schnee gefallen.
Ein hässlich kalter Regen ergoss sich stattdessen seit Tagen über das bunt glitzernde und vor festlichen Dekorationen strotzende London. Fast schien es, als wolle der Himmel nie wieder aufhören zu weinen. Überall spielte man Weihnachtslieder. Überall spannten sich Girlanden über die Straßen und Gassen. London ertrank förmlich in einer Flut aus Regenschauern und kitschig buntem Zuckerguss.
Emily Laing und Aurora Fitzrovia waren an besagtem Tag hinaus nach Rotherhithe gefahren. Die Schule hatten sie früher verlassen dürfen, da Miss Monflathers noch immer nicht zurückgekehrt war. Eine Laune des Schicksals hatte die beiden Mädchen zum ehemaligen Waisenhaus getrieben. Beide hatten in der Nacht schlecht geschlafen und beim Frühstück hatten sie einander von ihren Träumen erzählt.
»Wir sollten es uns noch einmal anschauen«, hatte Emily vorgeschlagen.
»Damit wir sehen, dass es vorbei ist?«
»Genau.«
Mrs. Quilp, die gerade Kaffee aufsetzte, sagte: »Noch immer keine Nachricht von euren Mentoren.«
Mr. Quilp, der Zeitung las, sagte: »Tja.«
Es war ein Morgen wie die meisten anderen auch.
Bis auf die Träume.
Emily hatte von Mara geträumt und Mara von ihrer älteren Schwester. Aurora war erneut in jenem Zimmer gefangen, in das sie einst die weiß geschminkte Madame Snowhitepink entführt hatte. Beide Mädchen waren mit einem Schrei in der Kehle hochgeschreckt.
Danach lagen sie sich in den Armen.
Und weinten bitterlich.
»Es ist vorbei«, flüsterte Emily.
»Niemals wird es richtig vorbei sein.«
»Doch, wird es.«
Emily strich ihr durch das dunkle Haar und umarmte sie ganz fest.
So hatten sie bis zum Morgengrauen dagelegen.
Wie damals, als Maurice Micklewhite Aurora aus dem Waisenhaus entführt und zum Museum gebracht hatte. Als die beiden Freundinnen zum ersten Mal nach Emilys überstürzter Flucht gemeinsam in einem richtigen, bequemen Bett in der Wohnung in Marylebone hatten schlafen können.
Damals hatten sich beide ein Versprechen gegeben.
Draußen heulte der Sturm. Wind peitschte Regen gegen die Fenster.
Wie damals, als sie in Marylebone gelegen hatten.
»Erinnerst du dich?«, fragte Aurora. Beinah zögerlich.
Natürlich erinnerte sich Emily.
An alles.
Kaum zu glauben, wie viel in einem so jungen Leben passieren konnte.
Niemals würde sie diese Dinge vergessen.
Das wusste sie.
Emily ergriff ihrer Freundin Hand, die warm und weich war und zitterte. »Wir werden das alles gemeinsam durchstehen«, erneuerte sie das Versprechen von damals. »Was da auch kommen mag.«
Leise, fast ehrfürchtig flüsternd wiederholte Aurora diese Worte, als seien sie Bestandteil einer Zauberformel: »Was da auch kommen mag.« Und drückte die Hand ihrer Freundin, die sie nie mehr loslassen wollte.
An dem Tag, der jener traumreichen Nacht folgte, statteten die Mädchen tatsächlich dem Waisenhaus, das jetzt nichts weiter als ein leer stehendes Lagerhaus war, einen Besuch ab.
»Dombey & Son« stand noch immer auf dem Schild geschrieben, das jetzt windschief an nur noch einem Haken über der Tür baumelte und vom Sturm geschüttelt wurde, den die Themse durch die Gassen bis dorthin trug. Bretterbeschläge befanden sich vor den hohen Fenstern. Seit nunmehr einem Jahr lebte dort niemand mehr, doch spürte man nach wie vor das Böse, das jenes Haus beherbergt hatte.
Manche Plätze, dachte Emily, sind einfach böse.
Hand in Hand standen die Mädchen vor dem hohen Gebäude mit den grauen Steinen und dem verwitterten Dach.
Fast war es, als könnten sie die Schreie der Kinder hören, die Mr. Meeks oder der Reverend mit dem Rohrstock gezüchtigt hatte. Beinah sah Emily sich selbst hoch oben am Fenster in der Kammer des Reverends stehen, während Larry der Lykanthrop kopfüber die Mauer
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