Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Londons, drüben auf der anderen Seite des Flusses, zog Mushroom Manor seine Truppen zusammen. In der Stadt und in der Metropole sah man immer häufiger geschlossene Geschäfte und zugezogene Fensterläden. King’s Moan war von Schankwirten wie Gästen gleichermaßen verlassen worden, und selbst am Ravenscourt wurde nicht mehr gefeilscht.
London wappnete sich.
Doch wogegen?
Mylady Eleonore Manderley schloss die Augen. Wie schade, dachte sie traurig, dass diese schwere Zeit die meine sein muss. An den Plan der Ratten musste sie denken, an all die blutigen Opfer der Aufstände, an die Augen ihres Mannes, sein Lächeln und die Schönheit ihrer beider Tochter.
Die Zeiten würden sich ändern.
Doch …
Taten sie es nicht bereits?
Eleonore Manderley spürte es ganz deutlich, konnte es im eisigen Wind riechen, der von der Themse herüberwehte. Sie hörte es im Wispern der großen Bäume, die sich an der Hausfassade die Äste rieben und ächzten und rauschten. In den Schatten, die aus den verwinkelten Ecken des Hauses hervorkrochen, sah sie die dunklen Vorzeichen.
Es gibt keine Zufälle, dachte sie.
Unendlich müde.
Und insgeheim, das wusste sie, hatte sie bereits eine Entscheidung gefällt. Der Rest ist, wie man sagt, bereits Geschichte.
Kapitel 1
London Calling
Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren. Niemand wusste das besser als Emily Laing, die Zeugin gewesen war, wie die Northern Line, die pünktlich um 15:08 Uhr in den Bahnhof Leicester Square eingefahren war, ihre einstmals beste Freundin Aurora Fitzrovia verschlungen hatte. Verzweifelt hatten Bremsen gequietscht und Menschen geschrien, und da war außerdem dieses Geräusch gewesen, als kaltes Metall gegen warmes Fleisch geprallt war, als dunkle Haut blutig aufgeschürft und Rippen und Organe zerquetscht worden waren. Nur Sekundenbruchteile, wie ein kurzer Aufschrei. Emily wusste nicht einmal, ob sie es wirklich gehört oder sich nur eingebildet hatte.
So schnell konnten Dinge geschehen.
Und doch …
Für Emily Laing war dies die Ewigkeit.
Immerfort würde sie es sein.
Wollte die unerbittliche Zeit den Menschen zur Strafe in den schlimmsten Augenblick seines Lebens sperren, in dem er für die restlichen Jahre seines Daseins gefangen wäre, so wäre dies in Emilys Fall jener, als sie ihrer Freundin zum letzten Mal in die ungläubig und erschrocken aufgerissenen Augen blicken durfte. Nur Sekundenbruchteile, bevor der Schatten des Zuges auf Auroras Gesicht fiel und das stählerne Ungetüm sie mit sich riss. Bevor Emily der grinsenden Fratze in der Menge gewahr wurde. Dorian Steerforth sah aus, als würde er genüsslich tief einatmen, als würde er etwas in sich aufsaugen. Emily konnte sich nicht erklären, wo Dorian so plötzlich hergekommen war, oder warum er so tatenlos lächelnd am Rande des Bahnsteigs stand. Alles, woran sie sich erinnerte, war dieses Einatmen. Auch später noch würde dieses Bild sie heimsuchen. Gerade so, als sauge der Junge etwas ihm höchst Kostbares in sich auf. Und dann, wieder Sekundenbruchteile später, bemerkte Emily, dass die hässliche Narbe verschwunden war. Einfach so. Hatte sich in Luft aufgelöst, als sei sie niemals da gewesen. Dorian Steerforth strich sich mit der Hand über die Wange und lächelte. Zufrieden und irgendwie … gesättigt. Jünger. Erfrischt. Das Schlimmste an diesem Lächeln war jedoch, dass es Emily galt. Ihrer Wut und ihrer Verzweiflung und ihren Tränen. Instinktiv spürte Emily in diesem Augenblick, dass das Verschwinden der Narbe etwas mit dem zu tun haben musste, was gerade geschehen war.
Doch etwas war nicht richtig gewesen.
Warum hatten Aurora und sie gestritten?
So heftig gestritten.
Weshalb hatte sie Aurora von sich gestoßen?
Na, weswegen wohl?
»Dorian Steerforth«, würde ich später schlussfolgern, »ist ein Aphrodit.« Selbstverständlich hatte Emily keine Ahnung, wovon ich sprach.
»Aphroditen sind liederliche Gestalten. Wunderbar anzusehen, doch so durchtrieben wie sie hübsch sind. Ein Aphrodit bezaubert die Menschen mit seinem Liebreiz«, würde ich ihr erklären, »und schürt Eifersucht und Neid. Den Hass, der daraus geboren wird, saugt er gierig auf, denn er ist wie ein Jungbrunnen für ihn.« Aphroditen neigen dazu, die Menschen gegeneinander auszuspielen. Es ist ihre Natur. Wankelmütige und verschlagene Wesen sind sie. Häufig sind es Frauen, nur selten Männer. »Sie ernähren sich von Eifersucht, Missgunst und anderen
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