Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
größerer Statur war, hatte die Gebete seines Ordens in rot gefärbten Runen ins Gesicht tätowiert.
»Dies ist nicht der Weg«, verkündete der blaue Engel, »der euch bestimmt ist.«
Beide Engel hielten Flammenschwerter in den Händen, die sie überkreuzten, als wir uns näherten, sodass winzige Funken aufstoben und die Luft erfüllt war vom Zischen der Feuer.
»Wir kommen«, begrüßte Rahel seine Brüder, »um Lilith zu erwecken.«
Zu lügen lag ihm fern.
»Das ist euch nicht erlaubt«, sagte der rote Engel. Seine Worte waren eine harte Melodie, geformt von Flammenzungen.
»Warum?«
Der blaue Engel antwortete: »Wir erlauben es nicht!«
Rahel blieb hartnäckig.
»Warum?«
Mit vor Ungeduld berstender Stimme herrschte der blaue Engel ihn an: »Sprich dieses Wort nicht aus, Rahel!«
Der entgegnete nur: »Warum nicht?«
Beide Engel antworteten gleichzeitig. »Es ist ein verbotenes Wort.«
Die Ordensgeschichte der Urieliten lehrte sie seit alters, dass jenes Wort schlecht war und großes Übel geboren hatte. Die himmlische Ordnung hatte es einst gestört, und es war zu blutigen Aufständen gekommen. Brüder hatten gegen Brüder gekämpft, und viele Engel hatten ein grausames Schicksal erleiden müssen. Dies alles, weil einige unter ihnen begonnen hatten, die Dinge anzuzweifeln, die niemand hätte hinterfragen dürfen.
»Warum?«
Auf dem Weg zum Tower hatte er uns erklärt, dass der mächtige Träumer keine Kinder mag. Weil Kinder die Schöpfung hinterfragen. Es macht sie gefährlich, weil sie die Zukunft sind und die Instrumente, mit denen der mächtige Träumer die Welt zu formen vermag. Und dem mächtigen Träumer die Hände gebunden sind, wenn zu viele Fragen gestellt werden. Weil Fragen schlecht sind. Zweifel ist Lästerung. War nicht die Schöpfung dem Schöpfer untertan? Könnte es jemals anders sein? Die Urieliten hatten Angst davor, sich diese Fragen zu stellen, denn zu fragen hieße, die eigene Existenz anzuzweifeln.
Zu hadern.
Sich der Sinnlosigkeit hinzugeben.
Schwach zu werden.
»Ihr kommt hier nicht vorbei!«, verkündete der rote Engel.
»Du weißt nicht, wovon du sprichst!«
»Lord Uriel persönlich erteilte uns die Order«, beharrte der rote Engel, und sein Blick streute Funken.
»Ihr wisst beide, wie es um Lord Uriel bestellt ist«, sagte Rahel zornig. »Sein Geist ist verwirrt, und er stellt sich die Fragen, die euch ängstigen, schon seit einer Ewigkeit. Seitdem wir Mylady Lilith einen Besuch abgestattet haben. Seitdem unser Bruder Lucifer mit all seinen Anhängern vertrieben worden ist.«
»Lästerer!«, fauchte ihn der rot tätowierte Engel an.
Und Rahel handelte.
So schnell, wie ich es nie zuvor gesehen hatte.
Mit einem kräftigen Schlag seiner plötzlich ausgebreiteten Flügel sprang er nach vorne und fiel den Ordensbruder an. Der rote Engel wurde gegen das Verrätertor geschleudert, und als Rahels Krallen seine Kehle schlitzten, da erlosch bereits das Feuer in des Engels sterbenden Augen. Nur ein Engel vermochte es, einen anderen Engel zu vernichten. In den Augen des blauen Engels flackerte unsicher das Feuer der Jugend und in des sterbenden Engels Blick spiegelte sich die Frage, die sein noch lebender Gefährte auszusprechen wagte.
»Warum?«, fragte der blaue Engel.
Ganz bleich und schockiert.
Bleich, weil Rahel einen Brudermord begangen hatte, und schockiert, weil die Frage so selbstverständlich über seine schmalen Lippen gekommen war, als hätte sie schon immer darauf gewartet, ausgesprochen zu werden. Wir rechneten mit einem Angriff seitens des Engels.
Der jedoch ausblieb.
Rahel bettete den toten Bruder auf die Stufen der Treppe.
Schloss sachte dessen erkaltete Augen.
»Warum?«, wiederholte der blaue Engel seine Frage. Beinah kindlich.
»Wir müssen zur Schläferin«, sagte Rahel mit mächtiger Stimme, »denn genau dies ist unser Weg. Unser Bruder, dessen Name nur ihm selbst gehört, war nicht sehend.«
Und erneut überraschte uns der blaue Engel.
Nicht nur, weil er erneut die Frage stellte: »Warum nur, Rahel?«
Sondern auch, weil er sein Flammenschwert senkte, zur Seite trat und den Weg freigab.
»Tut, was euch beliebt«, sagte er traurig, und das Feuer in seinen Augen flackerte unstet wie einst, als Lucifer voller Zweifel mit seinem Schicksal haderte, nachdem dem Lichtlord klar geworden war, dass die Dinge in der Welt nicht so waren, wie er sie bisher gesehen hatte.
»Warum gibst du den Weg frei?«
Der blaue Engel wirkte traurig, als er
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