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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Alter nach ihr griff und mit knochigen Fingern ihre Wangen liebkoste, die ganz welk und fleckig wurden.
    »Dann sah ich Rahel«, gestand sie mir später.
    Mit einem Mal.
    »Ich werde ihr neues Leben einhauchen«, hatte uns der Engel erklärt.
    Und niemals werde ich vergessen, was meinen Augen zu sehen vergönnt war.
    Noch heute sehe ich ihn vor mir.
    Rahel.
    Wie er vortritt und den gläsernen Sarg öffnet. Mit so leichter Hand. Wie er sich zu Lilith hinabbeugt und sie küsst. Die ausgebreiteten Schwingen scheinen die alte Frau zu umarmen.
    Dann beginnt es.
    Die Haut Liliths glättet sich, und neuer Glanz lässt ihr blondes Haar, das ihr in sanften Wellen um die Schultern fällt, in neuer Pracht erstrahlen. Mit einer behutsamen Handbewegung entfernt Rahel die Spiegelscherben aus den Augen der Frau, die nun schon keine alte Frau mehr ist. Klirrend fallen die Spiegelscherben in den gläsernen Sarg.
    »Erwache«, flüstert Rahel.
    Und Lilith öffnet die Augen.
    Unfähig zu sprechen, formt sie mit den schmalen Lippen seinen Namen.
    Rahel.
    Heaven, I´m in heaven.
    Ein Beben durchläuft des Engels Körper. Federn fallen zu Boden und hinterlassen blutige Punkte auf der hellen Haut, die jetzt welk wird. Blondes Haar fällt dem Engel in dichten Büscheln vom Kopf. Die einstmals strahlenden Augen fallen ein, das Feuer in ihnen längst erloschen.
    Während Lilith zu neuem Leben erwacht, verdorrt der Engel. Nur mehr Knochen sind seine einst mächtigen Schwingen.
    Lilith ergreift die Hand des Engels.
    »Rahel!«
    Sie schafft es, seinen Namen auszusprechen.
    Eine Grimasse, die ein Lächeln sein soll, entstellt das Gesicht des Engels. Lilith atmet förmlich das Leben ein, das Rahel ihr schenkt. Und während sie dies tut, füllen Tränen die eisig blauen Augen und gefrieren zu winzigen Kristallen, in denen sich das Leid und der Schmerz des sterbenden Engels brechen.
    »Ich wusste es«, sagte sie mir später.
    Sie weiß es, denke ich.
    Sie weiß, dass Rahel stirbt, um ihr das Leben zu schenken. Sie weiß, dass sie nicht verhindern kann, was einmal begonnen wurde. Das alles ist der Lauf der Dinge. So hat es der Träumer gewollt. Und während sie vom Leben des Engels trinkt, erblüht ihr alter Körper zu neuem Leben.
    Dann erhebt sie sich.
    Steht vor uns. Zu ihren nackten Füßen die Überreste jenes Engels, der einst Rahel war. Der in London musiziert und am Strand des Roten Meeres seine Erfüllung gefunden hat. Der Kriege im Himmel und auf Erden gesehen und Gefühle gehabt und sich Fragen zu stellen getraut hat.
    Es war vorbei.
    So plötzlich, wie es begonnen hatte.
    »Ich lebe!«, sagte Lilith.
    Zweifelsohne, dachte ich.
    Und überließ es Maurice Micklewhite, die Anwesenden einander vorzustellen.
    Dann verließen wir den Tower und brachten Mylady Lilith hinauf nach London ins Savoy.

Kapitel 4
Wahnsinn, der das Herz zerreisst
    Die Welt ist gierig, und als Emily das Buch in ihren Händen hielt, da wusste sie genau, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts, das Geschehene würde ungeschehen machen können. Schwer lag es in der Hand des Mädchens, jenes dünne Buch mit dem grünen Schutzumschlag, das Emily, ohne es zu wissen, die ganze Zeit über in ihrem Rucksack mit sich getragen hatte. Den alten, schäbigen Rucksack, den ich ihr einst zum Geschenk gemacht hatte, hatte sie vor einigen Tagen in der Wohnung in Marylebone vergessen gehabt, wobei laut Zeitrechnung der uralten Metropole in der Stadt unter der Stadt erst weniger Zeit verstrichen war. Ein alter Rucksack nur, übersät mit Rissen und Löchern, die Peggotty beizeiten gestopft hatte. Fast sechzig Jahre lang hatte der Rucksack mir treue Dienste geleistet, doch dann hatte ich es für angemessen gehalten, ihn meiner Schutzbefohlenen zu übergeben.
    »Mir hat er Glück gebracht«, hatte ich ihr gesagt.
    Wortlos hatte sie das alte Ding entgegengenommen.
    Nicht recht gewusst, ob sie mir dafür danken oder nach dem kürzesten Weg zum Mülleimer fragen sollte.
    Letzten Endes hatte sie sich bedankt.
    »Es ist ein Rucksack«, hatte ich erklärend hinzugefügt.
    Man konnte ja nie wissen.
    Emily hatte gelächelt. Ganz kurz.
    »Ich habe ihn bekommen, als ich nach London zurückkehrte.«
    Damals, lange nach den Aufständen, als ich es unter der gleißenden Sonne Ägyptens nicht mehr ausgehalten hatte.
    »Und jetzt bekomme ich ihn.«
    Es war eine Feststellung.
    Die mehr Dank ausdrückte, als überschwängliche Ausrufe es zu tun vermocht hätten.
    Nun denn.
    Der Rucksack gehörte von

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