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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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diesem Zeitpunkt an Emily Laing, die sich so furchtlos in das feuchte, dunkle Loch in der Erde begeben hatte. Gewissermaßen war er als Lohn für ihren Wagemut gedacht gewesen. Seit jenem Tag war der Rucksack ihr treuer Begleiter während ihrer Wanderungen durch die Stadt. Und als sie an jenem Tag allein in dem großen Zimmer mit dem Kamin und dem Ausblick hinaus auf die City saß, in dem Sessel, in dem sie immer zu sitzen pflegte, wenn sie in meinem Anwesen in Marylebone weilte, da sah sie den Rucksack in einer Ecke stehen, und ihr fiel ein, dass sie ihn bei ihrem letzten Besuch vergessen hatte. Ich hatte ihn dorthin gestellt, weil er mich an diesem Platz nicht störte. Punktum. Emily nahm ihren Rucksack und sah hinein, und in diesem Moment drehte sich ihre Welt. Denn sie fand das Buch, das Aurora ihr gegeben hatte. Sie hatte es nur im Rucksack deponieren und aufheben sollen, weil Aurora an jenem Tag in die Nationalbibliothek zu Maurice Micklewhite hatte gehen wollen. Und Aurora hatte sich immer davor gescheut, Bücher mit in die Bibliothek zu nehmen.
    »Sonst denken die am Ende noch, dass ich sie geklaut habe«, hatte sie immer gemeint.
    Wie auch immer.
    Sie hatte Emily das Buch anvertraut.
    Und als Emily in meiner Wohnung saß und darauf wartete, dass Little Neil Trent dort einträfe, da zog sie das vergessene Buch aus dem Rucksack hervor und hielt es nahezu andächtig in den Händen. Ein Gemälde war auf dem Cover zu erkennen. Ein Walfänger, der gerade seine Boote ausgesandt hatte, und der Rücken eines Wals. Emily las den Titel.
Im Herzen der See
. Von Nathaniel Philbrick. Sie klappte das Buch auf und wurde des Lesezeichens gewahr. Nein, eigentlich war es nicht einmal ein richtiges Lesezeichen, sondern nur ein langer Kassenbeleg vom Tesco-Supermarkt drüben in Hampstead. Das Mädchen überflog die Positionen. Butter, Cheddar, Walkers Chips, Tomaten, Milch und so weiter. Dann las sie das Datum und erinnerte sich. An jenem Tag hatten sich Aurora und sie nach der Schule getrennt, weil Aurora den Quilps versprochen hatte, die Besorgungen des Tages zu machen. Emily war mit den Hausaufgaben in Verzug gewesen, und so hatte Aurora ihr angeboten, die Einkäufe zu übernehmen. Nicht selbstlos, denn beide wollten später am Tage noch ins Kino. Das war das Leben, das sie wie normale Kinder geführt hatten. Emily erinnerte sich an so viele Einzelheiten, die an jenem Tag geschehen waren, obwohl ihr nichts von alledem bisher außerordentlich wichtig erschienen war. Es war ein gewöhnlicher Tag gewesen. Nichts Besonderes. Ein Tag im Leben zweier Mädchen, die ihre Zeit in London totschlugen. Die am späten Nachmittag im Odeon am Leicester Square
Neverwhere
sahen. Die an einer Bude unterhalb des Piccadilly Circus Fish and Chips aßen. Die ganz gewöhnliche Dinge taten, die Mädchen in ihrem Alter eben tun. Irgendwann an diesem Tag hatte Aurora dann bei Tesco einen Kassenbeleg erhalten und irgendwann später hatte sie das Buch gekauft oder von jemandem ausgeliehen – bei Micklewhite oder den Quilps – und irgendwann noch viel später, nachdem sie das Buch zu lesen begonnen hatte, da hatte sie den Einkaufsbeleg als Lesezeichen benutzt, hatte ihn zwischen die Seiten einhundertsechsundsiebzig und einhundertsiebenundsiebzig gesteckt.
    Emily las:
    Plötzlich stand William Wright, ein neunzehnjähriger Kap Codder, auf, um seine Beine auszustrecken. Er warf kurz einen Blick nach Lee und blickte sogleich noch einmal hin.
    »Da ist Land!«, brüllte er.
    Hier endete das Kapitel.
    Auf Seite einhundertsechsundsiebzig.
    Dort steckte das Lesezeichen.
    Und Emily weinte, und nichts konnte die bitteren Tränen mehr zurückhalten. Mit aller Wucht des Erwachsenwerdens traf sie die Erkenntnis, dass Aurora die tragische Geschichte des Walfängers
Essex
, der von einem Wal gerammt und versenkt worden war, nicht zu Ende lesen würde. Niemals würde sie erfahren, was die Seeleute an Land erwartete, wo dieses Land gelegen hatte oder welches Schicksal den Menschen in dem Buch bestimmt war. Die Geschichte endete für Aurora Fitzrovia auf Seite einhundertsechsundsiebzig. Einfach so. Sie endete dort, weil Aurora von ihrer Freundin vor einen einfahrenden Zug am Leicester Square gestoßen worden war. Sie endete dort, weil Aurora tot war.
    Es schien so, als wäre es das Lesezeichen, das Emily anklagte. Es war das Lesezeichen, das ihr bewusst machte, dass Aurora nie wieder ein Buch in den Händen halten würde. Es waren das Lesezeichen und das Buch selbst,

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