Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Gesicht spiegelte. Greises Haar stand ihm in Büscheln vom Kopf ab. Fast sah er schon aus wie die gerupften Gestalten vom Ravenscourt. Seine Kleidung bestand nur noch aus Lumpen. Schmutzige Stofffetzen hatte er sich um die dürren Finger gewickelt, um sich notdürftig vor der Eiseskälte zu schützen.
Es war Maurice Micklewhite, der den alten Mann erkannte.
Der seinen Namen aussprach.
Jenen Namen, der hunderte von Waisenkindern das Fürchten gelehrt hatte.
»Reverend Dombey!«
Der alte Mann hielt in seiner Betätigung inne und starrte uns an, als sähe er Gespenster.
»Ich muss das Ding zum Laufen bringen.« Seine Stimme war bloß ein ausgetrocknetes Krächzen. Er drückte auf eine Reihe von großen Knöpfen und legte mehrere knirschende Kippschalter um, als jedoch nichts passierte, wandte er sich wieder unserer kleinen Gruppe zu. »Was suchen Sie denn alle in der Hölle? Hat Ihnen niemand gesagt, dass es hier kalt ist?« Er kicherte schrill. »Früher, da haben die Kinder immer Kohlen geschaufelt, und es war schön warm.« Er rieb sich die Hände und hustete. »Jetzt ist das blöde Ding kaputt, und keines dieser dummen Kinder rührt einen Finger, um dem alten Edward zu helfen. Dabei ist dieses Ding hier«, er tätschelte das Gerät, an dem er sich festklammerte, »so eine Art Heizung. Ein improvisierter Umlufterhitzer, irgendwie. Und das in der Hölle.« Wieder das irre Kichern. »Schmilzt das Eis, sodass die Kinderchen besser schürfen können. Neue Tunnel, immer tiefer. Ja, ja, so ist das. Master Lycidas wünschte es.«
»Ich kenne Sie!«, rief Maurice Micklewhite ihm entgegen.
Unschlüssig, was wir mit dem Kerl anfangen sollten.
»Ich kenne Sie auch, verehrter Herr, doch weiß ich nicht, woher. Ja, so ist das. Der alte Dombey. Weiß nicht mal mehr seinen Namen. Nur noch Dombey, das mit Sicherheit. Doch Edward? Oder gar Charles? Oder gänzlich anders? Ja, ja, ja. So weit ist es schon gekommen.« Seine Faust knallte gegen einen Schlauch, der aus der Maschine herausragte. »Nun lauf doch schon, du dummes Ding. Du dummes, dummes Ding!«
Der Reverend mühte sich an den Hebeln und Schaltern ab.
Miss Monflathers meinte: »Der spinnt.«
Ich sah sie nur an.
Die Augenbraue zog sie nach oben.
»So ist es«, gab ich zur Antwort.
Weil sie eine Antwort erwartete.
Miss Monflathers, das wusste ich, war nie ein Freund zu vieler Worte gewesen.
Zudem war der Gedanke höchst befremdlich, dass jenes alte, verwitterte Kerlchen, das da wie ein tasmanischer Teufel an der mysteriösen Maschine herumturnte, die wie die Kulisse eines Terry-Gilliam-Films aussah, einmal der Assistent eines der bekanntesten und berüchtigtsten Alchemisten Englands gewesen sein sollte. John Dee, ein Name, den sich Master Lycidas seinerzeit erwählt hatte, war ein mächtiger Mann am Hofe Königin Elizabeths gewesen, die noch lange nach ihrem offiziellen Ableben als Regentin der uralten Metropole die Fäden in der Hand gehalten hatte. Edward Kelly war der Assistent John Dees gewesen. Später dann hatten beide ihre Namen geändert. Lycidas nannte sich nicht mehr John Dee, sondern John Milton. Und aus Edward Kelly wurde Edward King, der fast zwei Jahrhunderte später zum Leiter eines Waisenhauses in Rotherhithe aufstieg. Perfekt gewählt war dieser Ort, ermöglichte er es dem skrupellosen Wissenschaftler doch, seine Forschungen fortzusetzen. Zuerst nannte er sich Jonathan Murdstone, später dann Charles Dombey. Er missbrauchte die Kinder im Waisenhaus für seine liederlichen Zwecke. Suchte nach einer Möglichkeit, die Unschuld von Kindern zu destillieren und in Flaschen zu verkorken, um damit seinem Meister Lycidas, dem gefallenen Lichtlord, zu Diensten zu sein.
Sich vorzustellen, dass dieser alte, verwirrte Mann die Inkarnation des Schreckens für Generationen von Waisenkindern gewesen war, fiel schwer. Emsig krabbelte er auf der Maschine herum und dachte gar nicht daran herunterzukommen. Als die Engel Master Lycidas in die Laterne von St. Paul’ s verbannt hatten, da war sein Gehilfe aus dem Waisenhaus geflohen und untergetaucht, und niemand hatte seit diesen Tagen mehr vom alten Charles Dombey gehört. Weder von ihm noch von seinem vermeintlichen Sohn, dem feisten Charles Dombey junior.
»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte Rahel.
Doch Maurice Micklewhite gebot ihm zu schweigen.
Wir alle sahen, warum.
Dicht über dem Kopf des Reverends schob sich ein insektenartiges Bein aus den Schatten. Borstige Haare schabten am rostigen Stahl der
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