Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Manderley tauschten entsetzte Blicke, die mehr sagten, als Worte es zu tun vermocht hätten.
»Das Kind sagt, dass Mara von ihr träumt«, murmelte Miss Anderson.
Und Mylady fuhr ihr unsanft ins Wort: »Ich weiß, was das Kind gesagt hat.« Sie atmete schwer. »Aber wie ist das möglich? Mia hat niemals etwas Derartiges erwähnt.«
»Sie wissen, was geschehen ist«, gab Miss Anderson ihrer Herrin zu bedenken.
Mylady nickte schockiert, als ihr die ganze Tragweite dieser Neuigkeit bewusst wurde. Nur langsam erhob sie sich aus ihrem Sessel und kam auf die beiden Kinder zu. »Ist es möglich«, flüsterte sie nahezu geistesabwesend, »dass diese beiden hier Schwestern sind?«
Emily drückte Mara an sich.
Ganz fest.
Was Mara geschehen ließ.
»Wir sind Schwestern«, betonte Emily mit fester Stimme.
»Schweig!«, herrschte Mylady sie daraufhin an. »Du hast ja keine Ahnung, was du da sagst.«
Trotzig begegnete Emily dem Blick ihrer Großmutter.
»Ich weiß sehr wohl, was das bedeutet«, beharrte sie.
»Wittgenstein, dieser alte Rattenfreund«, murmelte Mylady abfällig. »Er hat es dir erklärt, nicht wahr?«
»Fragen Sie nicht«, entgegnete Emily schnippisch.
Bereits während ihres ersten kurzen Treffens mit ihrer Großmutter war es kaum zu übersehen gewesen, dass diese nicht besonders gut auf die Kaste der Ratten zu sprechen war.
»Mushroom Manor wird nicht begeistert davon sein«, stellte Miss Anderson lakonisch fest.
Mylady Manderley betrachtete die beiden Kinder. »Wenn man darauf achtet, dann erscheint es fast offensichtlich. Seid ihr beiden wirklich die Kinder des gleichen unnützen Vaters?«
»Sie sind Trickster.« Miss Anderson hätte es nicht einmal aussprechen müssen.
»Ja, bei Gott! Zwei Tricksterkinder.«
»Zwei Wechselbälger.«
Die beiden Frauen schwiegen nachdenklich.
»Das«, stellte Mylady schließlich fest, »ändert alles.«
Miss Anderson pflichtete ihr bei.
Zögerlich fragte Emily: »Werden Sie mir sagen, was damals passiert ist?«
Die alte Frau konnte kaum verbergen, wie schwer ihr die Worte über die Lippen kamen. »Die ganze Geschichte. Ja, das werde ich.« So begann sie von den Dingen zu berichten, die sich einst zugetragen hatten in der Stadt der Schornsteine. Und Emily, die nicht ahnte, wie grausam Wissen sein kann, lauschte gespannt den Worten ihrer Großmutter.
Kapitel 6
Die Anmut des ›Heuwagens‹
Während London im Schneegestöber versank und Emily Laing ihrem Freund aus dem Raritätenladen ihr Herz ausschüttete, hatte ich mich in den Ostflügel der Nationalgalerie am Trafalgar Square begeben. Genau genommen befand ich mich in Raum vierunddreißig auf einer Bank, den Blick auf mein Lieblingsbild gerichtet, die Lichtlady und einstmalige Madame Snowhitepink neben mir.
»Hoffnung gibt es immer.« Mit dieser Feststellung hatte Mylady Lilith reagiert, als ich ihr von dem Unglück in der U-Bahn berichtet hatte. »Niemand ist wirklich tot. Auch nicht Miss Fitzrovia.« Gespannt hatte sie meinen Schilderungen der Ereignisse gelauscht. Ihrer Miene war dennoch nicht zu entnehmen gewesen, ob sie das Schicksal des Mädchens berührte oder nicht. Weiß geschminkt wirkte ihr hübsches Gesicht mit den grellrot geschminkten, schmalen Lippen maskenhaft und kühl. Kein Wunder, dass sich die Kinder im Waisenhaus vor dieser Erscheinung geängstigt hatten.
»Sie können ihr demnach helfen?«, fragte ich sie.
»Eine solch törichte Frage kann nur ein Alchemist stellen.«
»Ach?«
Sie entblößte eine Reihe blendend weißer Zähne.
Beide betrachteten wir das Gemälde von John Constable. Den
Heuwagen
. Bestimmt gibt es Werke von größerem Ruhm und von stärkerer Bedeutung für die Kunst als dieses hier. Die Galerie beherbergt neben einigen frühen Rembrandts auch Gemälde und Zeichnungen von da Vinci, Raffael und van Eyck. Nicht zu vergessen Piero della Francesca, Velázquez und Seurat. Doch so kunstfertig und wertvoll all jene alten Meister auch sein mögen, in meinen Augen kann es kein Bild mit dem
Heuwagen
von Constable aufnehmen.
»Wenn Sie ein Bild stehlen würden«, fragte mich Mylady Lilith, »auf welches würde Ihre Wahl fallen?«
»Fragen Sie nicht!«
»Auf den
Heuwagen
, nicht wahr?«
Was sollte diese Frage? »Ich stehle keine Gemälde.«
»Auch nicht den
Heuwagen
?«
»Ich mag ihn so, wie er da hängt.«
Sie lächelte wissend.
»Sie lieben dieses Bild, nicht wahr?«
»Ja.«
»Es schenkt Ihnen Frieden. Ruhe, nach der sich Ihr Herz so sehnt.«
Neugierig
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