Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
musterte ich sie.
    »Fragen Sie nicht«, antwortete ich erneut.
    Sie war niemand, der unnütz Worte verschwendete. Das jedenfalls war der Eindruck, den ich von ihr gewonnen hatte, nachdem wir den Tower verlassen hatten. Miss Monflathers und Maurice Micklewhite hatten ihr beide vom Nyx und den Rattlingen erzählt. Vom Bann Uriels, der Lycidas in der Laterne von St. Paul’s gefangen hielt und den nur sie zu brechen in der Lage war. Wortlos hatte sie all die Neuigkeiten zur Kenntnis genommen, wobei es schwer auszumachen gewesen war, ob sie überrascht war. Sie war zu neuer Schönheit erblüht, nachdem Rahel sein Leben für sie gegeben hatte. Lilith, die Verführerin. Wenn man sie so ansah, musste man an die Sagen und Mythen denken, die sich um ihre Person rankten. An all die Geschichten von jener wunderschönen Frau, die des Nachts in die Gemächer der Männer eindrang und ihnen das Blut aussaugte. An die Märchen von entführten Kindern und ins Unglück gestürzten Dörfern.
    »So haben Sie mich also aus Eigennutz befreit«, hatte sie festgestellt. »Sollte ich Ihnen dafür dankbar sein?«
    »Ist nicht alles Handeln von Eigennutz bestimmt?«, hatte Miss Monflathers lapidar erwidert.
    »Sie hören sich an wie ein Ökonomieprofessor.« Mylady Lilith hatte süffisant gelächelt, und in diesem Lächeln konnte man mühelos die ganze Boshaftigkeit erkennen, zu der sie zweifelsohne fähig war.
    »Wir brauchen Sie«, brachte ich es auf den Punkt.
    »Ah, eine ehrliche Antwort.«
    »Wittgenstein war schon als Schüler gefürchtet, weil er ausspricht, was er denkt«, sagte Miss Monflathers.
    Ihre momentane Überlegenheit auskostend hatte Mylady Lilith gesäuselt: »Sie brauchen mich also.«
    Entnervt betonte ich: »Das sagte ich doch.« Und fügte an: »Nur Lycidas ist dazu in der Lage, dem Nyx die Stirn zu bieten. Wir sind machtlos. Wir sind auf des Lichtlords Hilfe angewiesen.«
    »Und somit«, ergänzte Maurice Micklewhite, »auch auf die Ihre.«
    Mylady Lilith schwieg nachdenklich.
    Im Licht ihrer hellen Augen, die so grün glänzten, wenn Dinsdales Leuchten auf sie fiel, schimmerten die Jahrhunderte wie all die verlorenen Jahre in den Augen eines sterbenden Mannes, der in Reue auf sein Leben zurückblickt und weiß, dass er nichts von alledem mehr ändern kann und auch nicht ändern würde, böte sich erneut die Gelegenheit.
    »Ich werde Ihnen helfen«, versprach die Lichtlady schließlich.
    Dann waren wir an die Oberfläche gekommen.
    Durch das Tower Gateway nahe der Fenchurch Street verließen wir die uralte Metropole, betraten London direkt neben dem stark von Touristen frequentierten McDonald’s-Restaurant am Tower Hill. Eine eisige Brise wehte von der Themse herüber und ließ alle frösteln. Wir brachten Mylady Lilith zum Savoy, wo Maurice Micklewhite eine Suite mit Ausblick auf die Themse für sie reserviert hatte.
    Dort überließen wir die Lichtlady ihren Gedanken.
    Dort verbrachte sie die Nacht.
    Und dort erreichte sie der Anruf, der von Beginn an ein Hilferuf war.
    »Ich treffe Sie in der Nationalgalerie«, hatte sie mir gesagt. Kühl und sachlich hatte ihre Stimme am Telefon geklungen.
    Wir hatten eine Uhrzeit vereinbart.
    Und nun war ich hier.
    Hatte ihr von dem Unglück erzählt und starrte wie gebannt auf das Gemälde mit dem Heuwagen.
    »Manche Dinge sollten so bleiben, wie sie sind.« Ihre leise Stimme klang wie warmer Honig. »Wie vieles erhält seinen Wert erst dadurch, dass es für uns unerreichbar ist.« Bedauernd stellte sie nach einem Augenblick des Schweigens fest: »Wie oft wird uns der Wert eines Menschen erst dann bewusst, wenn er nicht mehr unter uns weilt.« Uralt wirkten ihre Augen, als sie dies sagte.
    »Ja.«
    Unwillkürlich musste ich an Mylady Hampstead denken.
    An ihr Ende.
    An die Schuld, die irgendwer immer trug.
    »Was sehen Sie in dem
Heuwagen
, Wittgenstein? Wollen Sie es mir sagen?«
    Ich brauchte nicht lange zu überlegen.
    »Schönheit«, antwortete ich.
    Es ist eine typisch englische Landschaft. Wolken bedecken den Himmel. Irgendwo sieht man spärlich ein helles Blau durchschimmern. Riesige Bäume von sattem Grün erheben sich über einem Landhaus, dessen Konturen nur unscharf zu erkennen sind. Ein breiter Bach schlängelt sich an dem Haus vorbei, und inmitten des Baches steht ein Heuwagen, vor den ein Pferd gespannt ist. Zwei Männer stehen auf dem Heuwagen, der gar kein Heu geladen hat, und vorne vor dem Bach läuft ein Terrier umher. Eine Wiese verläuft nach hinten hinaus,

Weitere Kostenlose Bücher