Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
zögerlich unter der Mütze hervor, die sie sich bis über beide Ohren gezogen hatte.
Zwischen St. John’s Wood und Baker Street stiegen wir in die uralte Metropole hinab. Ein Siding befindet sich dort, das es uns erlaubte, den Bahnsteig der Knightsbridge Line zu erreichen, einer direkten Anbindung hinunter nach Marble Arch, die schon seit Jahrzehnten in Vergessenheit geraten war. Ein alter Zug, dessen roter Lack bereits seit Jahren abbröckelte und der in London lange schon ausgemustert worden war, brachte uns schnell an unser Ziel, von wo aus wir auf schnellstem Wege den Hyde Park zu erreichen gedachten. Skurrile Passanten säumten den Bahnsteig. Mit den Köpfen zuckende Rabenmenschen und lange Pfeifen rauchende Tunnelstreicher sowie einige Gestalten, die Emily nie zuvor gesehen hatte. Koffer tragende Heathrow-Menschen mit flachen Hüten auf den breiten Köpfen, Tagesmütter aus Dagenham East und St. Pancras-Buchhalter mit ihren mechanischen Rechnergeräten. Einige Pyro-Punks aus Haggerston zündelten über einem der Abfallkörbe, und zwei Adepten der Black-Friars-Gemeinde vom Embankment lasen in ihrer heiligen Schrift.
Wie seltsam diese Welt Emily noch immer vorkam. All die Gestalten, von denen sie nur erahnen konnte, welche Rollen sie im Netzwerk der uralten Metropole spielten. Neil hatte ihr von Gesellschaften erzählt, die in den stillgelegten Bahnhöfen der Underground stattfanden und wo Punks auf arme Gesellen Jagd machten, deren sie in London hatten habhaft werden können. Fuchsjagden nannten die Punks jene Veranstaltungen, in deren Verlauf die »Füchse« durch das Labyrinth der Tunnel nahe Primrose Hill getrieben wurden und den Siegern der Skalp der Beute winkte. Doch gab es dort, abgesehen von diesen barbarischen Gepflogenheiten, nicht auch die Erhabenheit einer Welt, die Magie atmete? Einen Kosmos, wo steinerne Ritter an tiefen Abgründen Brücken mit Schwert und Schild und Lyrik bewachten? Wo Baronien und Grafschaften von zerlumpten Adeligen regiert wurden und Götter wandelten, denen kaum noch jemand Beachtung schenkte?
Wie seltsam diese Welt doch war. Und sie, Emily Laing, war ein Teil von ihr geworden, würde dies für immer sein. Denn wenn eines sicher war, dann das!
»Niemals werde ich den Namen Manderley tragen.« Wütend hatte sie geklungen, keineswegs reuevoll.
Die alte Frau, die als Großmutter zu bezeichnen Emily sich noch immer scheute, hatte all die Jahre über die Fäden gezogen. Zwar versuchte sie den Ratten die Schuld an den tragischen Ereignissen zuzuweisen, doch waren dies nichts anderes als windige Wortklaubereien.
»Lord Brewster hat die Ermordung meines Vaters in die Wege geleitet!«
Hyronimus Brewster.
Ausgerechnet!
Von allen Ratten war diejenige, die Emily so oft geholfen hatte, die das Mädchen in meine Obhut gegeben und Lycidas mit unserer Unterstützung zu Fall gebracht hatte, der Drahtzieher, dessen Absichten alles andere als eindeutig waren.
»Mylady hat tatsächlich Seiner Lordschaft Namen genannt?« Ein Teil von mir weigerte sich zu glauben, dass die alte Ratte Verrat begangen haben könnte. Eigene Pläne verfolgt, vermutlich. Das lag in der Ratten Natur.
»Habe ich mich unklar ausgedrückt?«
Hatte sie nicht.
Emily hegte einen Groll gegen die Ratte, den ich in Anbetracht der Geschehnisse gut verstehen konnte. Wenn es der Wahrheit entsprach, was Mylady Manderley da so leichten Herzens geäußert hatte, erschien das Verschwinden der alten Ratte in einem gänzlich neuen Licht, das die Absichten Seiner Lordschaft zumindest zweifelhaft erscheinen ließ.
»Wem kann man denn noch glauben?« Emilys Vertrauen in ihre Umgebung war wieder einmal zutiefst erschüttert worden. Die Welt ist gierig, und sie verschlingt kleine Kinder, gerade dann, wenn sie allzu leichtfertig Versprechungen und Beteuerungen glauben.
Die Laternen im Park waren eingeschaltet und bildeten helle Inseln in der Dunkelheit, wo sich die Gerippe der Bäume in den wolkenverhangenen Nachthimmel schoben.
Irgendwie trostlos, dieser Anblick.
Ein runder Mond stand hoch über uns und lugte hin und wieder aus den Wolken hervor.
Blue Moon
, dachte ich mit einem Mal,
I saw you standing alone
.
»Wie geht es Ihnen?«, wollte ich von Emily wissen.
»Oh, fragen Sie doch nicht dauernd.«
»Ich bin eben besorgt«, gestand ich.
Sie sah mich an und zog ein Gesicht. Ihre Stimme klang mürrisch, wenngleich sie die erleichterte Dankbarkeit nicht ganz zu verbergen vermochte.
Zufälle, dachte ich erneut, gibt es
Weitere Kostenlose Bücher