Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
irgendwo in London untergetaucht war, hatte ihr den Kopf verdreht und sie gegen Aurora aufgehetzt. Irgendwie hatte er es geschafft. Aurora hatte so erschrocken und überrascht ausgesehen, als der Zug sie erfasst hatte. Ungläubig, dass ausgerechnet Emily ihr den Todesstoß versetzt hatte.
Als könnten die Worte einen Fluch von ihr nehmen, sprach Emily sie erneut aus.
»Eifersucht, das war der Grund.«
Anubis ließ die Antwort unkommentiert.
Seine Krallenfüße schabten garstig auf dem rostigen Metall der Leiter, die durch den röhrenförmigen Schacht hinabführte. Hinab in die Unterwelt. Die Wände waren mit Hieroglyphen bemalt. Es war die Darstellung eines thebanischen Grabes, in der Vogelzeichen und Gegenstände und abstrakte Figuren die Geschichte eines wohlhabenden Mannes erzählten, der ins tiefe Reich der Toten hinabsteigt, gefolgt von der Dienerschaft seines Hauses und den Tieren. Reichtümer häufen sich: Gold und Ebenholz und Leopardenfelle und Giraffenschwänze. Doch sprechen die Bilder davon, dass der Mann die Schätze zurücklassen muss und stattdessen einem Mann gegenübersteht, der sein Ebenbild ist. Es ist dieser Mann, der die Hand nach dem Toten ausstreckt, und dann verschmelzen die Farben und Figuren zu einer einzigen, die die Form einer Kiste annimmt, an deren Vorderseite ein Gesicht erkennbar ist. Anubis empfängt den Mann und weist ihm seinen Platz für die Ewigkeit zu.
»Kennen Sie diese Geschichte?«, wollte Emily von mir wissen.
Ich musste verneinen.
»Niemand«, hörten wir des Lordkanzlers donnernde Stimme, »kennt diese Geschichten. Sie sind vergessen wie die Götter, die einst die Geschichten geboren und ihnen Sinn verliehen hatten. Versunken im Wüstensand, wie die einstmals mächtigen Reiche, die doch niemals mehr waren als Staub in den Augen ihrer Könige.«
Für die weitere Dauer des Abstiegs schwiegen wir.
Wortlos betrachtete Emily die Bilder. Ägyptische Malereien, wie man sie sonst nur in den Städten des alten Königreichs hatte finden können. Memphis und Theben. Alexandria und Karnak. Bilder von Göttern, deren Namen nur mehr Schall und Rauch waren und die in London und anderswo in der Welt ihr neues Zuhause gefunden hatten. Osiris und Isis und Ptah. Tawaret und Astarte. Wie gut, fragte sich das Mädchen, hatte Anubis die anderen Götter gekannt? Wie hatten sie gelebt? Was fühlt ein Gott, wenn die Menschen den Glauben an ihn verlieren? Fühlt er sich nicht wie ein Waisenkind? Ganz allein in der Fremde?
Sie zerstreute den Gedanken daran.
Konzentrierte sich auf den Abstieg, der schon viel zu lange dauerte.
Dann endlich hatten wir das Ende der Leiter erreicht. Die Ausmaße des Raumes, in dem wir uns befanden, konnten wir nur erahnen.
»Willkommen in der Unterwelt!«, begrüßte Anubis uns.
Staunend ließen wir den Anblick auf uns wirken.
Denn wir befanden uns in einer riesigen Pyramide.
Einer Pyramide, die unter der Royal Albert Hall errichtet worden war und den Inschriften an den Wänden nach zu urteilen uralt sein musste. Einer Pyramide, die eine einzige gigantische Grabkammer war. Ein Raum, so weit und tief, dass wir ihn kaum überblicken konnten. Kerzen brannten an den Wänden, waren in gekrümmten Halterungen befestigt, die wie Hände aus den Steinquadern hervorragten. Unzählige Plattformen wuchsen aus den schrägen Wänden, Blättern gleich und miteinander verbunden durch tonfarbene Treppen. Seltsame Objekte befanden sich allerorten, und beim näheren Hinsehen erkannte Emily, dass es sich um Spiegel handelte. Spiegel aller Formen und Größen und Arten. Spiegel aus Glas und Spiegel aus Wasser, Spiegel aus Silber und Spiegel aus etwas, das wie Lack aussah, und sogar Spiegel aus schwarzem Stein. Was immer ein Spiegelbild zu werfen in der Lage war, stand hier unten.
Das Innere der Pyramide war ein einziger riesiger Spiegelsaal.
»Tretet näher«, lud Anubis uns ein.
Und schritt voran.
Eine der schmalen Treppen hinab.
Wir folgten ihm.
In den Spiegeln, das erkannte Emily nun, bewegte sich etwas. Schattenhaft wie ein dunkler Wirbel. Hier und da liefen einige Horusmenschen mit Kanopenvasen umher.
»Sie tragen die Seelen der Verstorbenen zu den Spiegeln«, erklärte uns der Totengott.
Dann sah Emily, was er damit meinte.
In den Spiegeln erkannte sie Landschaften, und in jedem Spiegel zeigte sich eine andere Gegend. Landschaften in höchster Vollendung mit Inseln, Flüssen, Wäldern, Wüsten und Feuerseen. Papyrusrollen lagen auf den Steinblöcken, die
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