Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
und folgte dem Totengott, der uns tiefer in die Unterwelt führte. Der Lordkanzler blieb schließlich vor einem großen Spiegel stehen, der unsere Köpfe um einige Armlängen überragte und der Teil eines goldenen Schreins war.
Emily brauchte nicht lange in den Spiegel hineinzusehen, um zu erkennen, wer sie dort erwartete.
Aurora Fitzrovia.
Sie stand in einem Häusereingang in der Straße, die auf der anderen Seite des Spiegels vorbeilief, und sah zögerlich dorthin, wo Emily gerade war. Traurig sah sie aus. Einsam. Aber keineswegs verletzt. Allenfalls ein wenig bleich. Nichts an ihrer Erscheinung deutete auf den grausamen Unfall hin, den sie gehabt hatte. Sie befand sich an einem Ort, den Emily nicht kannte. Ein Küstendorf irgendwo in Wales, schoss es Emily durch den Kopf. Die Bäume krümmten sich unter der Kraft des Windes, der vom Meer her blies. Seeleute streunten durch die Straßen. Frauen mit Kindern an den Händen und Männer, die mit Anzügen und Aktentaschen wie die Geschäftsleute aus der Lombard Street aussahen. Aurora stand an einer Kreuzung, die vielleicht der Dorfplatz war. Sie sah dorthin, wo ihre Freundin stand, und Emily fragte sich, ob das Mädchen zur anderen Seite des Spiegels sehen konnte oder ob sie lediglich Emilys Spiegelbild wahrzunehmen vermochte.
Emily stand im Spiegel mitten auf dem Dorfplatz. Und ich gleich daneben.
Der Lordkanzler hingegen war nicht im Spiegel zu erkennen.
»Aurora«, flüsterte Emily.
Streckte instinktiv die Hand aus.
Die Menschen im Spiegel wurden unserer gewahr. Sie starrten uns an, und Aurora, das spürte Emily, hatte sie erkannt. Vielleicht konnte sie sich nicht an ihr Leben erinnern, denn sie unternahm vorerst keinerlei Anstalten, auf Emily zuzugehen. Vielleicht erinnerte sie sich aber doch und wollte gerade deswegen nichts mehr mit ihrer ehemaligen Freundin aus dem Waisenhaus zu tun haben. Vielleicht trug sie ihr nach, dass sie sie vor den einfahrenden Zug am Leicester Square gestoßen hatte. Dumme Gans, schalt Emily sich selbst. Natürlich trug sie es ihr nach. Jeder trug seinem Mörder die Schandtat nach, die das eigene Leben gekostet hatte.
»Emily?«
Sie reagierte nicht.
Und ich musste sie erneut ansprechen.
Dann erst blinzelte sie.
»Es geht mir nicht gut«, bekannte sie.
»Was haben Sie?«
»Mir ist schwindlig.«
Der Lordkanzler trat vor.
»Ihr wollt das Mädchen dort befreien?«
Welch eine Frage!
»Ja«, antwortete ich für Emily.
»Die Unterwelt gibt niemanden umsonst frei«, verkündete Anubis. »Jemand muss dafür zahlen.« Die Schakalaugen verengten sich zu Schlitzen. »Sie«, betonte er und zeigte mit dem klauenhaften Finger auf Emily, »muss den Preis bezahlen.«
»Welchen Preis?«, fragte ich.
»Den Preis, den zu zahlen sie bereit ist.«
Götter und ihre rätselhafte Ausdrucksweise!
»Was genau schwebt Euch da vor?«
»Woran hängt Ihr Herz?«
Emily blinzelte. Starrte den Lordkanzler an, der ihre Gedanken lesen konnte.
Ernst erwiderte dieser: »Sie kennen den Preis, Mädchen.«
Kreidebleich wurde das Kind. Ja, sie wusste ganz genau, welchen Preis sie zahlen musste, um die Schuld von sich zu laden und Aurora in die Welt der Lebenden zu retten. Sie wusste es und hatte es schon immer gewusst. Die Welt ist eben gierig, und sie schenkt niemandem etwas. Am wenigsten einem Kind, das Verrat begangen hatte an dem Menschen, der ihm am nächsten stand.
Mit zitternder Hand berührte Emily Laing ihr Auge.
Nicht das Mondsteinauge.
Das andere, das gesunde Auge.
Aurora kam im Spiegel auf sie zu. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
»Sie hört Eure Gedanken«, sagte der Lordkanzler.
So vieles hätte Emily ihrer Freundin sagen wollen. All die Worte der Reue und der Scham, die sie während der vergangenen Tage mit sich herumgetragen und die ihr das Herz zerfressen hatten. Doch blieb sie letzten Endes stumm.
Die anderen Toten im Spiegel hatten bemerkt, dass etwas vor sich ging.
Etwas Ungewöhnliches.
Und so traten sie vor. Strömten aus den Häusern und von den Feldern im Hintergrund, verließen die Schiffe, die in einem imaginären Hafen hinter der Hügelkette am Horizont vor Anker lagen. Alle kamen sie und drängelten sich an die Spiegelscheibe, pressten verzweifelt und um Hilfe heischend die Gesichter gegen den Spiegel und flehten und wehklagten, man möge sie doch erlösen. Tausende von eisig kalten Händen fassten Emily an, die stocksteif inmitten der Toten auf dem Dorfplatz stand, während Aurora, ihre beste Freundin, sie
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