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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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noch immer nicht angefasst hatte.
    »Zahlen Sie den Preis?«, hörte Emily von fern des Lordkanzlers Stimme.
    Ganz durcheinander war sie.
    »Entscheiden Sie sich!«
    Und letzten Endes doch nur ein Kind.
    »Jetzt!«
    »Was soll ich nur tun, Wittgenstein?«
    Hätte ich ihr einen Rat geben können?
    In dieser Situation?
    Die eisigen Totenhände zerrten auch an meiner Kleidung. Erflehten Erlösung auch durch mich.
    »Tun Sie, was Ihr Herz Ihnen sagt.« Das war alles, was ich an Ratschlag hervorzubringen vermochte.
    Emily atmete tief ein.
    Schloss kurz die Augen und dachte daran, dass es von nun an für immer so sein würde. Ihr war, als kehrten all die Ängste zurück, die sie im Waisenhaus gehabt hatte. Sie erinnerte sich der Augenblicke in dem engen Lastenaufzug, als sie in die Kammer des Reverends eingedrungen war, an die Finsternis, als die Fluten des Hades sie umklammert gehalten hatten, und an die Nachtschwärze in der Region. Immer schon hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet. Als Mr. Meeks sie geschlagen hatte und ihr Blut und Auge heißüber das Gesicht geronnen waren, da hatte die Verzweiflung sie voll und ganz vereinnahmt. Da war die ewige Dunkelheit greifbar gewesen. So nah, dass ihr schier das Herz stehen geblieben war. Doch hatte sie noch sehen können. Eingeschränkt zwar, aber dennoch klar und wohl wissend, was in der Welt um sie her geschah.
    Jetzt musste sie es aussprechen.
    Sie durfte Aurora nicht in diesem Spiegel zurücklassen.
    »Ja«, hörte sie sich sagen, »ich zahle den Preis.« Ihre Stimme zitterte. »Aurora Fitzrovia soll leben.«
    Muss
leben, dachte sie.
    Muss leben, weil ich sonst sterben werde.
    Der Lordkanzler von Kensington schnalzte mit der Zunge. »Dann soll es geschehen!« Laut hallte seine Stimme durch das Innere der Pyramide unter der Royal Albert Hall.
    Mit langsamen Bewegungen trat Emily auf den Spiegel zu.
    Berührte das kalte Glas mit der flachen Hand.
    Unsicher und zögerlich.
    Die Toten auf der anderen Seite des Spiegels schlugen jetzt wie wild mit den Fäusten gegen die Scheibe, um sich bemerkbar zu machen. Jeder wollte gerettet werden. Alle wollten sie leben. Selbst die, die schon so lange tot waren, dass sie die Welt, in die sie hineingeboren worden wären, in den Wahnsinn getrieben hätte. Selbst die, die freiwillig in den Tod gegangen waren. Alle wollten sie den Spiegel verlassen.
    Doch nur ein Mädchen sollte es tun.
    »Aurora«, flüsterte Emily.
    Und Aurora Fitzrovia, die noch die gleichen Kleider trug wie am Tag des Unglücks, umarmte die Emily Laing im Spiegel. Jene Emily auf dem Dorfplatz, die ihr die Hand reichte und ihren Namen aussprach, so liebevoll und reumütig, dass all die anderen Toten erschraken, als sei ein Donner über den Himmel gerollt.
    Emily spürte das Glas unter ihrer Handfläche und sah, wie die Hand darin versank. Sie spürte, wie jemand ihre Hand ergriff und sanft drückte, und dann zog sie daran und sah eine dunkelhäutige Hand, die die ihre hielt. Sie zog jene Hand aus dem Spiegel heraus, und sofort begannen die Konturen der Hand zu verblassen. Der Arm, der der Hand folgte, wurde augenblicklich unscharf, und als das Gesicht des einstigen Waisenkindes aus Rotherhithe aus dem Spiegelglas hervorlugte, konnte Emily nur einen kurzen Moment lang in die dankbaren Augen ihrer Freundin schauen.
    Sie würde sich an die Tränen darin erinnern und das Leuchten.
    Als Aurora sie umarmte, da schwebte Emily bereits in der Finsternis, die sie für den Rest ihres Lebens begleiten sollte.
    »Ach, Emily«, hörte sie Aurora schluchzen.
    Und der Worte unfähig, begann auch Emily zu weinen.
    Sie spürte, dass Aurora ihr vergeben hatte. Als sie den warmen Atem auf ihrer Haut und den pochenden Herzschlag der Freundin ganz dicht bei sich spürte, da wusste sie es. Unermessliche Schuld hatte sie auf sich geladen, und nun hatte sie den Preis dafür gezahlt.
    Emily Laing sank in den Armen ihrer Freundin zu Boden und hielt sich beide Hände vor die Augen. Das, wovor sie sich immer gefürchtet hatte, war nun eingetreten. Sie hatte beider Augen Licht verloren.

Kapitel 10
Liliths Lied
    »Ich sollte Sie alle über einige Dinge in Kenntnis setzen.« Master Lycidas war zurückgekehrt, und das Licht hoch oben in der Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale war erloschen. »Mylady Hampstead, die Rättin, die Eure Mutter war«, richtete er die folgenden Worte an mich, »war nicht im Besitz aller Informationen.«
    Ich entsann mich der Geschichte, die Lord Brewster uns geschildert

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