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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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inmitten der Spiegel lagen. Dort berichteten Hieroglyphen vom Leben der Verstorbenen und den Toten, die hinter den Spiegeln gefangen waren.
    Nein, dachte Emily, nicht
hinter
den Spiegeln.
Darinnen
.
    Das Mädchen schauderte.
    Sie erkannte unzählige Gestalten, die sich in den Spiegeln bewegten, als seien es Bilder. Menschen, die einst gelebt hatten. Menschen aller Hautfarben und aller Zeiten. Ihre Kleidung war diejenige, die sie am Tag ihres Todes getragen hatten. So erkannte man die Epochen, in denen die Menschen gestorben waren. Der Anblick hatte etwas Endgültiges. Bedrückendes. Denn der Tod war allgegenwärtig. In jeder Zeit. Immer schon gewesen.
    Soldaten in Uniformen und Ritter in Rüstungen und Mägde mit Kittelschürzen und Männer in eleganten Tuniken konnte Emily ebenso erkennen wie gewöhnliche Jungen in Bluejeans und Mädchen, deren Gesichter gepierct waren. Selbst die Tiere in den Spiegeln hatten einst gelebt. Denn alles einstmals Lebendige war jetzt hier. In den Spiegeln.
    »Aurora ist auch da drinnen«, flüsterte Emily.
    »Wir werden sie finden«, versprach ich.
    Der Lordkanzler trat vor. »Die Spiegel sind ewig«, sagte er.
    Was immer das zu bedeuten hatte.
    »Wie kann es sein, dass niemand ein solches Bauwerk bemerkt hat?«, fragte Emily mich leise.
    Anubis war derjenige, der ihr die Antwort gab: »Das Totenreich ist dort, wo ich bin. Ich bin die Unterwelt. Wo ich bin, da ist dieser Ort. Überall in der Welt. Immer woanders. Jetzt ist er unter der Royal Albert Hall.« Und als würde es alles erklären, fügte er hinzu: »So ist das. So wird es immer sein.« Stechende Schakalaugen musterten uns. »Ich bin Anubis. Ich bin ewig.«
    Nun denn!
    Götter und ihre Erklärungen.
    »Dann wisst Ihr es, Lordkanzler«, sprach Emily den Gott direkt an. »Ihr wisst, wo ich meine Freundin finden kann.«
    Des Lordkanzlers Gesicht zeigte keine Regung.
    »Miss Fitzrovia?«
    »Deswegen sind wir hergekommen.«
    »Ich bringe Euch zu dem Spiegel, der sie beherbergt.«
    Aufgeregt ließ Emily den Blick von einem Spiegel zum anderen schweifen. Es mochten tausende von Spiegeln sein, die sich im Inneren der Pyramide befanden. In den Spiegeln brach sich kein Licht. Die Fackeln jedenfalls, die unruhig flackerten, als wir sie passierten, hatten kein Spiegelbild. Die Personen jedoch, die vor den Spiegeln standen, fanden sich sehr wohl in den Spiegeln wieder. In der Landschaft, die das Innere der Spiegel zeigte, und inmitten der Menschen, die sich dort fortbewegten und ihren Geschäften nachgingen. Es war, als sehe man in eine Parallelwelt, die anstatt von Lebenden von Toten bevölkert wird.
    »Seht nur hin«, forderte Anubis uns vor einem der Spiegel auf.
    Und wir sahen hin.
    Sahen Straßen, die aussahen wie die Straßen Londons, nur anders. Wie ein Abbild. Als habe jemand die Stadt der Schornsteine kopiert. Bevölkert war die Stadt im Spiegel von vielen Menschen, die, als sich Emilys und mein Spiegelbild darin zeigten, auf unsere Spiegelbilder zugingen.
    »Spüren Sie es auch?«, wollte Emily wissen.
    »Ja.«
    Die Nähe der Personen in dem Spiegel war greifbar. Eine alte Frau, die einen Weidenkorb voll bunter Blumen trug und, betrachtete man ihre Kleidung, am Ende des 19. Jahrhunderts gestorben sein mochte, kam auf Emilys Spiegelbild zugeschlurft. Die Alte streckte die Hand nach dem Spiegelbild des Kindes aus, und in dem Moment, in dem sie im Spiegel die Schulter des Spiegelbildes berührte, schrie die wirkliche Emily, die neben mir stand, erschrocken auf.
    »Da war etwas!«
    »Was meinen Sie?«
    Anubis betrachtete uns schweigend.
    »An meiner Schulter!«
    In dem Augenblick, als Emily einen Schritt zur Seite gegangen war, hatte sich auch ihr Spiegelbild einen Schritt von der alten Frau entfernt. Die Hand der Alten ruhte nun nicht mehr auf der Schulter des Mädchens.
    »Sie hat mich angefasst!«, stellte Emily entsetzt fest.
    Bevor ich sie fragen konnte, wie genau sie das meinte, spürte auch ich es. Ein Kaminkehrerjunge, der um die gleiche Zeit wie die alte Frau gestorben sein musste, zupfte meinem Spiegelbild am Saum des Mantels. Augenblicklich spürte ich die Eiseskälte seiner kleinen Hand an meinem Bein und wich erschrocken einen Schritt zurück. Wie konnte das nur sein?
    »Für die Toten«, sagte der Lordkanzler, »sind wir die andere Seite des Spiegels.«
    Emily schüttelte sich, und der Gedanke, dass sie erneut von einem der Toten berührt werden konnte, erfüllte sie mit Grauen. Sie löste sich vom Anblick des Spiegels

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