Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Ratten.«
»Woher kamen die Wölfe?«, fragte Aurora schaudernd.
»Der Lordkanzler von Kensington schläft nicht.«
Die Kinder betrachteten sie neugierig.
»Es gibt, glaube ich, vieles zu erzählen, vom dem Sie beide noch nichts ahnen.« Mit einem Lächeln berührte Lucia del Fuego Emilys Wange. »Besonders Sie, Miss Emily.« Es war eine beinah zärtliche Berührung, die Emily an die Mutter denken ließ, die sie niemals gekannt hatte und so, wie es aussah, auch nie kennen lernen würde.
Könnte nicht Lucia del Fuego ihre Mutter sein?
Welch seltsamer Gedanke, dachte sie sogleich und warf einen Blick hinüber zu ihrer Freundin, die in diesem Moment das Gleiche zu denken schien. Eine bewundernswerte Frau zur Mutter zu haben; wünschte sich das nicht jedes Mädchen? Es war ein kurz aufflammender Traum, wie Waisenkinder ihn oft erleiden, wenn ihnen etwas Gutes und Angenehmes widerfährt.
Doch dann passierte es.
Wie schon zuvor, vollkommen unverhofft.
Besorgt beugte sich Lucia del Fuego zu dem kleinen Mädchen. »Was haben Sie nur?«
Mit einem Mal spürte Emily einen stechenden Schmerz hinter ihren beiden Augen. Einem Reflex folgend schlug sie die Hände vors Gesicht. Dann durchzuckte sie eine wahre Bilderflut.
Schmutzige Kinder ohne Augen, die in einem Bergwerk unter der Aufsicht insektenhafter Wesen Felsgestein aus den Wänden brachen. Der Tower von London, der in einer riesigen Höhle lag, von deren Decke schmutziges Wasser auf die Zinnen der Türme tropfte. Eine Kreatur, unförmig und mit Tentakeln bewehrt, die unter einem Baum dahinvegetierte. Ein Mann mit einem Gesicht, das Emily bekannt vorkam, wie ihr das Antlitz Lucia del Fuegos bekannt vorgekommen war. Wallendes, helles Haar fiel dem Mann über die Schultern, und er war in eine Robe aus blutrotem Stoff gekleidet.
Es gibt keine Zufälle, dachte sie und wusste insgeheim, dass sie jenen Dingen schon bald begegnen würde.
»Emmy!«
So weit, weit weg.
»Emmy!«
Mit einem lauten Schrei kam Emily zu sich.
Panisch schnappte sie nach Luft.
Aurora kniete über ihr, ebenso Lucia del Fuego.
»Atmen Sie tief durch«, riet ihr die Jägerin, denn das war, wie sie den Kindern noch im Regent’s Park mitgeteilt hatte, ihr Beruf. Lucia del Fuego war eine graue Jägerin im Dienste der Black Friars und in Freundschaft Mortimer Wittgenstein und Maurice Micklewhite verbunden. »Sie haben Dinge gesehen«, stellte sie sachlich fest.
Aurora wirkte überrascht.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Emily, als sie die Worte fand.
»Sie sind ein Wechselbalg und dazu eine Trickster.« Lange Finger schoben die Brille zurecht. »Doch sollten Sie sich erst einmal erheben.«
Emily wurde bewusst, dass sie noch immer auf dem schmutzigen Boden des Pubs hockte und die anderen Gäste der kleinen Gruppe misstrauische und neugierige Blicke zuwarfen.
Lucia del Fuego half Emily auf die Beine.
»Was haben Sie gesehen?«, wollte sie wissen.
Emily zögerte zuerst. Doch ließ ein Blick in die sanften Augen jegliche Zweifel verschwinden, die Jägerin könnte es nicht ehrlich mit ihr meinen. Und so erzählte Emily ihr von dem, was sie gesehen hatte. »Allerdings«, so beendete sie ihren Bericht, »habe ich nicht die geringste Ahnung, was ich da gesehen habe. Es macht mir Angst. Weil ich glaube, dass mir das, was ich da gesehen habe, zustoßen wird. Irgendwie.« Emily schluckte. »Das ergibt keinen Sinn, oder?«
Lucia del Fuego schüttelte den Kopf.
»Doch, kleine Miss Emily, es ergibt durchaus Sinn.«
Ich hatte die Vision, als
sie
mich berührt hat, erinnerte sich Emily. Was immer das bedeuten mochte.
»Was wollen Sie mir sagen?«, fragte Emily.
Als Lucia del Fuego zu erzählen begann, ergriff Emily ihrer Freundin Hand.
So erfuhr sie, während draußen vor dem Fenster der Schneesturm an Heftigkeit gewann, von ihrer Herkunft, von der Fehde zwischen den elfischen Häusern Manderley Manor vom Regent’s Park und Mushroom Manor aus Blackheath, die in den Whitechapel-Aufständen endete. Lucia del Fuego bezichtigte jenen geheimnisvollen Master Lycidas, der Drahtzieher aller Vorkommnisse zu sein. »Er ist es, den Sie in Ihrer Vision zu Gesicht bekommen haben«, fügte sie hinzu.
Die Gestalt in der roten Robe, dachte Emily.
Ein leichter Schwindel bemächtigte sich des Mädchens, als sie eine nahezu lähmende Gewissheit erhielt und die Jägerin vom Nachwuchs Mia Manderleys berichtete. »Kann es wirklich sein? Mara ist meine Halbschwester?« Tränen füllten ihre Augen, als sie fassungslos
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