Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
wiederholte: »Ich habe eine Halbschwester. Und eine Mutter.«
»Die Sie verleugnen wird«, gab Lucia del Fuego zu bedenken.
Emily sah die Jägerin aus tränennassen Augen an. »Warum?«
»Sie hat Sie niemals als ihr leibliches Kind akzeptiert. Sie, kleine Emily, standen der ehelichen Verbindung mit Mushroom Manor im Weg. Es durfte kein anderes Kind geben. Lord Mushroom hätte Mia Manderley mit dem Wissen um einen solchen Wechselbalg niemals zum Weib genommen.«
»Weswegen hätte sie mich auch sonst nach Rotherhithe abgeschoben«, flüsterte Emily.
Eine betroffene Stille breitete sich am Tisch aus.
Emily versuchte das, was sie gerade erfahren hatte, zu verstehen.
Ihr Vater war getötet worden, und ihre Mutter hatte sie verstoßen.
»Master Lycidas will sich dies alles zunutze machen«, gab Lucia del Fuego schließlich zu bedenken. »Er wird, das ist meine Vermutung, die kleine Mara töten oder noch Schlimmeres mit ihr anstellen, und die Mushrooms mit Ihrer Existenz konfrontieren, kleine Emily. Wenn dies zur Folge hat, dass Mia und Martin Mushroom sich trennen, dann könnte die alte Fehde zwischen den beiden Häusern erneut aufflammen.«
Nachdenklich blickte Emily zu Boden.
»Es könnte zu erneuten Aufständen kommen.«
»Wie damals in Whitechapel?«
»Ja.«
»Aber wieso?«, wollte Emily wissen.
Und Aurora schaltete sich erstmals in das Gespräch ein: »Wegen des Streits dieser beiden Häuser?«
»Es ist kompliziert«, gab Lucia del Fuego lapidar zur Antwort. »Wichtig ist, dass wir die kleine Mara befreien. Aus diesem Grunde hat mich Wittgenstein zu Ihrer beider Rettung und Begleitung entsandt. Er selbst ist derzeit, wie ich bereits erwähnte, leider nicht in der Lage, uns hilfreich zur Seite zu stehen.«
Emily ahnte, was das zu bedeuten hatte. »Sie meinen, wir sollen die Kleine im Alleingang befreien?«
»Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite«, entgegnete die Jägerin. »Wir wissen, wo Master Lycidas die Kleine festhält.« Vielsagend beugte sie sich zu den beiden Mädchen und flüsterte verschwörerisch: »Und zudem ist mir ein geheimer Pfad bekannt, der uns in den Tower von London bringen wird.« Sie lächelte wissend. »Vertrauen Sie mir.«
Emily berührte geistesabwesend und zögerlich ihr Glasauge. »Keine Mutter wird mich je lieben«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich bin ein Krüppel. Jeder bemitleidet mich wegen des Auges, aber niemand findet es liebenswert.«
Aurora wusste, was sie meinte. Bei ihr war es die Hautfarbe, die sie schon früh in der Gemeinschaft des Waisenhauses ausgegrenzt hatte. Man sollte vermuten, dass sich die Kinder im gemeinsamen Leid vereinen und eine einzige starke Gemeinschaft bilden würden, doch war dem nicht im Geringsten so. Je schlechter es den Kindern erging, umso mehr suchten sie die Bestätigung ihrer selbst, indem sie andere Kinder ausgrenzten. Man wertet sich selbst auf, indem man andere abwertet. Viele der Kinder hatten gelernt, diese Eigenart zu perfektionieren. So war es zur Gründung von Banden gekommen. Wer dazugehörte, konnte sich glücklich schätzen, wer nicht, der hatte ein Problem. Aurora war das Schokoladenmädchen gewesen, Emily die einäugige Missgeburt. Viele Kinder hatten nur allzu bereitwillig diese vom Reverend erdachten Schimpfwörter übernommen.
Emily und Aurora hatten früh zu akzeptieren gelernt, dass dies das wahre Leben war. Es lag in der Natur der Menschen, anderen Leid zuzufügen. Und Kinder, das ahnten sie, konnten in ihrer Grausamkeit jedem Erwachsenen das Wasser reichen.
»Ich weiß, wie Sie sich fühlen«, bekannte Lucia del Fuego. Deutete auf ihre Brille. »Glauben Sie, dass dieses Gestell einst dazu beigetragen hat, die Attraktivität eines jungen Mädchens zu erhöhen?«
Erstaunlich, dass diese stattliche Frau unter ihren Brillengläsern zu leiden gehabt hatte, dachten Emily und Aurora gleichzeitig.
»Als ich ein kleines Mädchen war«, erklärte Lucia del Fuego, »gab es noch keine Brillen, jedenfalls nicht für das einfache Volk. Das Lesen kostete mich große Mühe, und oft litt ich unter schrecklichen Kopfschmerzen, die von der Überanstrengung der Augen herrührten.«
»Wann ist das gewesen?«, wollte Aurora wissen.
Nachdenklich gab Lucia del Fuego zur Antwort: »Viele, viele Jahre ist das nun her. Geboren wurde ich anno 1608.« Nahezu belustigt fügte die Jägerin hinzu: »Ihren wundersamen Blicken entnehme ich, dass Sie das überrascht.«
»Das sind etliche Jahrhunderte«, bemerkte Aurora.
Und
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