Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Emily meinte: »Das ist ganz schön alt.«
»Wobei ich mich, und das muss ich aus Gründen der Eitelkeit anführen, doch recht trefflich gehalten habe.« Sie zeigte ein entwaffnendes Lächeln. »Manchmal sind die Dinge in der uralten Metropole ein wenig … anders.«
Dem war wohl nichts hinzuzufügen, dachte Emily.
»Die anderen Kinder in Cheapside machten sich über mich lustig, weil ich so kurzsichtig war. Die Bread Street war damals keine angenehme Gegend, das können Sie mir glauben, erst recht nicht für Kinder. Dennoch hatte ich mehr Glück als andere. Eine gute Ausbildung wurde mir zuteil, weil mein Vater, der Komponist war, eine Reihe von Stücken zur Lobpreisung Königin Elizabeths geschrieben hatte, was dem Inhalt seines Geldbeutels nicht abträglich gewesen war. Mir wurde eine Brille gekauft, doch als ich vom College heimkehrte, beschimpften mich die Freundinnen von einst hochnäsig als die Lady, weil ich in ihren Augen zu feine Kleider trug. Sie sehen, dass Kinder und später auch Erwachsene immer einen Grund finden, jemanden auszugrenzen.«
Die beiden Waisen klebten an ihren Lippen.
Lucia del Fuego war eine gute Erzählerin.
»Dann kam der Bürgerkrieg. Es war nun nicht länger weise, als königstreu zu gelten, und so nahm ich den Namen meiner Mutter, einer spanischen Bürgerlichen, an. Del Fuego.« Sie rückte sich die Brille zurecht. »Und ich wählte ein Leben als Söldnerin. Ich ließ mich von den Black Friars zur grauen Jägerin ausbilden und diente, nachdem Cromwell das Zeitliche gesegnet hatte und mein Liebster bei einer Bootsfahrt nach Irland ertrunken war, den Mönchen, die auch heute noch drüben an der Themse leben.«
Im Radio lief
Foggy Dew
.
»Das ist meine Geschichte«, endete Lucia del Fuego.
Alle drei betrachteten die flackernde Flamme der Kerze in der Mitte des Tisches. Nahezu hypnotisch wirkte das Feuer auf Emily, und erst jetzt wurde ihr bewusst, wie überaus anstrengend die letzten Tage und Stunden gewesen waren. Aurora schienen ebenfalls die Augen zuzufallen. Schweigend saßen sie am Tisch, bis die einstmals stattliche Kerze zu einem kümmerlichen Stummel abgebrannt war.
»Wie wäre es mit einer Mütze Schlaf?«, schlug Lucia del Fuego schließlich vor. Der Jägerin war es gelungen, ein Zimmer unter dem Dach des Pubs für eine Nacht zu mieten. »Denn Morgen«, fügte sie vielsagend hinzu, »erwartet uns ein langer Tag.«
Keines der Kinder hatte Einwände vorzubringen.
Und als Emily und Aurora nebeneinander unter der weichen, warmen Decke lagen und dem Wind lauschten, der an den Dachziegeln zerrte, beide in der Gewissheit, dass die Jägerin, die auf dem Boden am Fuße des großen, knarzenden Bettes lag, über sie wachen würde, da fühlten sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit sicher und geborgen.
Die Werbetafeln in den Schaufenstern der City posaunten es in die verschneite Welt hinaus: Nur noch drei Tage bis Weihnachten. Jene Zeit, so hatte es Emily einmal in einem zerfledderten Buch in der Charing Cross Road gelesen, während der die Engel wieder über die Erde wandeln und das Gute unter die Menschen bringen. Sie selbst war in ihrem Leben allerdings noch keinem Engel begegnet. Bisher jedenfalls nicht.
Was zu der Frage führte, ob sie denn überhaupt an Engel glaubte.
Sie gab die Frage an Lucia del Fuego weiter, die eingehüllt in Mantel und langen Schal vor den beiden durch den Schnee in Richtung der Blackfriars Station stapfte. »Die Engel leben am Oxford Circus«, gab sie kurz angebunden zur Antwort. Überhaupt schien die Jägerin an diesem Morgen wenig gesprächig zu sein.
Emily und Aurora schauten einander verwundert an.
»Und du?«, fragte Emily ihre Freundin. »Glaubst du daran, dass an Weihnachten die Engel über die Erde wandern?«
Aurora lachte verlegen. »Es gibt doch gar keine Engel«, sagte sie und fügte, verunsichert vom leicht abschätzigen Blick der Jägerin, zaghaft hinzu: »Glaube ich zumindest.«
Lucia del Fuego schwieg zu dieser Bemerkung.
Ging ihres Weges.
Und die Kinder folgten ihr.
Emily genoss es offenkundig, durch die Straßen des richtigen Londons zu trotten, die kalte frische Luft zu atmen und den Bewegungen der Wolken am hellgrauen Himmel zu folgen. Sie lauschte dem Dröhnen des Verkehrs, dem Murmeln der Passanten und der weihnachtlichen Musik, die aus den Eingängen der Geschäfte nach draußen drang.
Dies war ihre Welt. Hier schien alles real zu sein.
Nein, schalt sie sich selbst eine Närrin. Auch im wirklichen London gab es
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