Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
den Lügen und immer wieder neuen Lügen soll die Wahrheit versteckt sein?«
Sie trat einen Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand des Tunnels stieß. Ihre Worte hallten laut in der großen Höhle wider, verfingen sich in den Rauchschwaden und wurden von ihnen zu Boden gedrückt. Die Nekir zuckten unruhig, und von weit her hörte man Kinderweinen.
Lycidas trat auf Emily zu und berührte sie sanft an der Schulter. »Was möchten Sie von uns, mein Kind?«
Emily fauchte ihn an, doch eigentlich galten ihre Worte allen Anwesenden: »Ich will, dass Sie uns in Ruhe lassen! Mich und Aurora und alle Kinder dieser Welt! Ich will aus diesem Drecksloch raus und endlich wieder das richtige Leben spüren. Ich hasse Sie.« Sie stieß Lycidas von sich. Sodann spuckte sie allen anderen Anwesenden der Reihe nach die Worte ins Gesicht: »Und Sie, und Sie, und Sie, und Sie!« Tränen traten in die Kinderaugen. »Ich bin ein Kind, verdammt noch mal. Was wollen Sie denn alle nur von mir?«
Ihr Körper krümmte sich auf einmal in heftigen Krämpfen und ließ sie in die Knie gehen. Emilys Lippen begannen zu zittern, und die Augenlider flatterten. Der Atem des Mädchens ging ruckartig.
Es tat weh.
Sie befand sich in einem eisernen Käfig. Starrte durch die rostigen Gitterstäbe verzweifelt nach draußen in einen langen Tunnel hinein, der in die große Höhle mit dem Wyrm und dem Lebensbaum mündete. In der Ferne sah sie Gestalten: Wittgenstein und Micklewhite, Mr. Fox und Mr. Wolf, Dinsdale, Lycidas, Aurora, und … sich selbst. Zitternd wusste sie, dass dies die Augen ihrer kleinen Schwester sein mussten. Sie sah, was Mara sah.
Aus dem Käfig heraus.
Ihr schwindelte.
Blinzelnd wurde sie erneut der hohen Kuppel mit den Fresken voller Fratzenwesen gewahr und den anderen Zugängen zu diesem unterirdischen Bauwerk. Sie suchte nach einem Anhaltspunkt und fand schließlich den Tunneleingang, aus dessen Tiefe ihre kleine Schwester auf sie blickte. Zumindest glaubte sie, dass dies der richtige Tunnel war.
Nein, sie war sich sicher.
Fühlte es.
Instinktiv richtete sie den Blick wieder nach innen. Sie wand die Trickster-Gabe an, als hätte sie es immer schon getan. Sie konnte sich nicht erklären, warum es auf einmal funktionierte.
Es passierte einfach. Punktum.
Mühelos machte sie sich den Blickwinkel ihrer gefangenen Schwester zu Eigen und sah sich selbst inmitten der Erwachsenen stehen; nein, am Boden an einer kahlen Wand kauern, mit zitternden Händen und bebenden Lippen, ein blasses Mädchengesicht mit einem im hellen Licht funkelnden Glasauge, das aus der Ferne der riesigen Höhle in die Düsternis des Tunnels hineinzuschauen vermochte. In ihn hinein, bis sich ihr Blick mit dem der kleinen, schluchzenden Mara Mushroom traf.
Ich sehe mir selbst in die Augen, dachte sie benommen, und irgendwie auch wieder nicht, weil es ja die Augen der kleinen Mara und doch irgendwie auch die meinen sind. Ein verwirrender Gedanke, der sie einen Moment von den Bewegungen in den Schatten ablenkte.
Emily konzentrierte sich.
Und …
Mara starrte in die pechschwarze Düsternis, die aus den Tiefen emporgestiegen war und nun an den Tunnelwänden entlangkroch. Da waren Bewegungen in der Dunkelheit jenseits des Käfigs zu erahnen. Körper zuckten in den langen Schatten des Tunnels, Klauen wurden gewetzt, Speichel troff aus Mäulern. Die Schatten bewegten sich unablässig, verschmolzen zu neuen Formen, drängten vorwärts. Die Dinge, von denen man in sturmumtosten, einsamen Nächten träumt und an die man sich nicht mehr erinnern kann, nachdem man schreiend und verschwitzt aufgewacht ist, atmeten dort in der Dunkelheit.
Emily schrie auf.
Kreischte.
Aurora kniete neben ihr und umarmte sie. »Emmy!«
»Es fängt an«, stammelte sie nur.
Maurice Micklewhite warf mir einen wissenden Blick zu.
Genug des Geredes!
Lycidas beäugte das kleine Mädchen misstrauisch.
Maurice Micklewhite durchbrach die Stille mit einem Aufschrei, einem lauten Befehl, dem Losungswort, das er zuletzt während der Whitechapel-Aufstände benutzt hatte.
»Contrapasso!«
Angemessene Vergeltung.
Schnell schloss ich die Augen, als uns ein grelles Licht umflutete.
Mr. Fox und Mr. Wolf fauchten und schrien laut auf.
Die beiden Mädchen hielten einander fest in den Armen.
Dinsdale hatte uns nicht enttäuscht und sich des alten Losungswortes erinnert.
Mit einem Satz war Maurice Micklewhite vorgesprungen und hatte die beiden Jäger gepackt und nach hinten in die
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