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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Halbwahrheiten gleich, das Gemüt der Kinder überschattete.
    »Mia Manderley wurde zum Wohlergehen der uralten Metropole verheiratet. Man zwang ihr einen Gatten auf, den sie nicht einmal liebte und der in ihr nur die Mutter seines Erben sah. Sie war ein junges Ding. Und so unglücklich all die Jahre, weil man ihr das Kind genommen hatte. Das, lieber Wittgenstein, haben Sie verschwiegen. Sie, Emily, sind ein Kind der Liebe gewesen. Mia Manderley liebte Richard Swiveller, von ganzem Herzen. Selbstlos, wie wahre Liebe ist.«
    Für Emily waren die Worte des Engels süßem Honig gleich.
    Sanft und betörend lullten sie sie ein.
    »Öffnen Sie die Augen!«, forderte ich Emily auf.
    Schweigsam sah sie mich an.
    »Er spricht mit Engelszungen. Schenken Sie den Worten keine Beachtung.«
    »Ein wahrlich armseliger Versuch, die Zügel in der Hand zu halten«, entgegnete Lycidas.
    Ich wurde der Nekir gewahr, die sich in der großen Halle formierten.
    Die kleineren der abscheulichen Kreaturen wuselten nach wie vor über den wulstigen Körper des riesigen Wyrms, emsig die klebrige Flüssigkeit aufsammelnd. Doch etwas geschah dort hinten in den Schatten.
    »Was hat es mit Mara Mushroom auf sich?«, fragte Maurice Micklewhite.
    Der Befragte richtete die Antwort bewusst an Emily. »Ihrer kleinen Schwester geht es gut.«
    Gekonnt vermied er die Bezeichnung Halbschwester.
    »Aber was ist mit all den anderen Kindern?«, wollte Aurora wissen.
    »Und warum haben Sie uns hierher gelockt?« Emily trat einen Schritt zurück. »Sie haben behauptet, dass wir meine Schwester befreien wollen. Sie sei in einem der Käfige dort unten.«
    »Ihre Gattung, Miss Emily, ist voller Argwohn, was meine Person angeht. Die alten Geschichten stellen mich in keinem guten Licht dar. Für die meisten Menschen bin ich der Widersacher. Satan. Ja, ich war ein Engel. Doch war ich nie ein Satan. Ihrer gibt es viele, und es erschreckt mich jedes Mal aufs Neue, wenn die Menschen diesen Vergleich bemühen. Ja, ich wurde einst verbannt. Hätte ich mich Ihnen beiden so zu erkennen gegeben … wie hätten Sie wohl reagiert?«
    Keines der Mädchen antwortete darauf.
    »Die Menschen erkennen die Dinge selten als das, was sie sind. Hell oder dunkel. Gut oder böse. Weiß oder schwarz. Mann oder Frau. Nur die Extreme werden verstanden. Die Zwischentöne verklingen ungehört, sind eine Abart der Natur, etwas Verdammenswertes. Deshalb trat ich sowohl als Frau als auch als Mann auf im Laufe der Vergangenheit. Nur so konnte ich mir des Vertrauens der Menschen sicher sein.«
    »Aber Sie haben sie betrogen.«
    »Ach, Kind«, seufzte Lycidas mit Engelszungen. »Einst werden auch Sie dies verstehen.«
    Aurora fragte sich, was ihre Freundin in diesem Moment dachte.
    Emily zugewandt streckte Lycidas die Hand aus. »Folgen Sie mir. Bitte.«
    Das Mädchen schwieg.
    Warf mir einen langen, fragenden Blick zu.
    »Es wird nicht zu Ihrem Nachteil sein«, flüsterte Lycidas honigsüß. »Haben Wittgenstein und Micklewhite Sie in alles eingeweiht? Ist etwa Lord Brewster ehrlich zu Ihnen beiden gewesen? Stellen Sie sich diese Frage, und wenn Sie tief in Ihren Kinderherzen die Antwort gefunden haben, dann lassen Sie sie mich wissen.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Die uralte Metropole ist zerrissen von Intrigen. Sie, Emily Laing, und auch Sie, Aurora Fitzrovia, werden mein Handeln verstehen, wenn Sie erst einmal klar sehen. Das verspreche ich Ihnen beiden.«
    Emily rieb sich erschöpft die Augen. Dabei verharrte ihr Zeigefinger für Momente an dem Glasauge und ertastete die kühle, glatte Oberfläche. Die offensichtliche Kälte des Auges erschreckte sie wieder einmal, und sie begann sich zu fragen, ob es jemals einen Menschen geben würde, der sie von ganzem Herzen liebte. Sie wusste nicht mehr, was sie von den Versprechungen und Absichten der sie umgebenden Erwachsenen zu halten hatte.
    Das Gefühl der Verwirrung, dem sie sich in den letzten Minuten hatte hingeben müssen, wich urplötzlich einer nagenden Wut, einem Zorn, der alle anwesenden Erwachsenen umschloss. Das Mädchen atmete tief durch, und in einem Ausbruch, der uns alle überraschte, schrie sie: »Was erwarten Sie denn von mir? Wittgenstein, Micklewhite, Lycidas. Oder ist es Lucia del Fuego? Wem soll ich denn nun glauben? Verdammt noch mal, niemand sagt uns die Wahrheit. Nicht einmal auf Ihre Namen kann man sich verlassen. Es gibt immer nur Geschichten und Geschichten und immer wieder neue Geschichten, und irgendwo in all

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