Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
Winzigkeit zu niedrig für meine Größe war. Ich legte das Auge an und sah, daß ich drei Schritte rechts vom Thron stand. Nur die Hand des Throninhabers, die auf der Lehne ruhte, war für mich zu erkennen; eine Hand, die bis auf das Skelett abgemagert, mit blauen Venen überzogen und mit Edelsteinen geschmückt war.
    Vor dem Thron hockte gebeugten Hauptes eine so riesige Gestalt, daß ich schon an Tzadkiel dachte, die das Schiff geführt hatte. Das zerzauste Haar war mit Blut verklebt.
    Dahinter stand ein verschwommener Haufen von Wachsoldaten und daneben ein unbehelmter Offizier, dessen Insignien und buchstäblich unsichtbare Uniform ihn als Chiliarchen der Prätorianer auswiesen, obwohl es sich natürlich weder um den Chiliarchen handelte, der den Posten zu meiner Amtszeit innegehabt hatte, noch um denjenigen, den ich in einer nun unvorstellbar fernen Epoche vom Pfosten gehoben hatte.
    Vor dem Thron und damit nahezu außerhalb meines Gesichtsfelds stand, auf einen geschnitzten Stab gestützt, eine Greisin. Ich bemerkte sie erst, als sie sprach und sagte: »Sie läuten, um die Neue Wonne willkommen zu heißen, Autarch. Die ganze Urth bereitet sich auf ihr Kommen.«
    »In unsrer Kindheit«, murmelte die alte Frau auf dem Thron, »hatten wir wenig anderes zu tun als in der Geschichte zu lesen. Deshalb wissen wir, daß es tausend Propheten gegeben hat wie dich, arme Schwester – nein, sagen wir hunderttausend. Hunderttausend verblendete Hungerleider, die sich für begnadete Redner hielten und obendrein große Macht erstrebten.«
    »Autarch«, erwiderte die Alte in Lumpen, »hört mich an! Ihr sprecht von hunderttausend. Wenigstens schon tausendmal hab ich zu hören bekommen, was Ihr einwendet, aber Ihr habt noch nicht gehört, was ich sagen will.«
    »Sprich«, meinte die Frau auf dem Thron. »Sprich, solange es mir gefällt, dir zuzuhören.«
    »Ich bin nicht hier, um Euch Kurzweil zu verschaffen, sondern um Euch zu sagen, daß die Neue Sonne schon oft gekommen ist und jeweils vielleicht nur von einem einzigen oder wenigen Menschen gesehen worden ist. Ihr werdet Euch an die Klaue des Schlichters erinnern, denn zu unsern Lebzeiten ist sie verschwunden.«
    »Sie ist gestohlen«, murmelte die alte Frau, die auf dem Thron saß. »Wir haben sie nie gesehen.«
    »Ich schon«, erwiderte die Lumpenfrau mit dem Stab, »ich sah sie in den Händen eines Engels, als ich noch ein Kind und todkrank war. Als ich heute abend hierherkam, sah ich sie wieder am Himmel. Auch Eure Soldaten haben sie gesehen, scheuen sich aber, davon zu sprechen. Auch dieser Riese hat sie gesehen, der gekommen ist, um Euch zu warnen, und dafür mißhandelt worden ist. Auch Ihr würdet sie sehen, wenn Ihr aus dieser Gruft hervorkämet.«
    »Es hat schon früher solche Zeichen gegeben. Sie haben nichts bedeutet. Es gehört mehr als ein geschweifter Stern dazu, damit wir uns anders besinnen.«
    Ich überlegte, auf die Bühne zu treten und dem Spiel, wenn ich könnte, ein Ende zu bereiten. Dennoch blieb ich, wo ich war, und fragte mich, zu wessen Unterhaltung solche Spiele aufgeführt würden. Denn es war ein Spiel, ein Schauspiel gar, das ich kannte, allerdings nicht von der Perspektive des Zuschauers. Es war Dr. Talos’ Schauspiel. Die Frau auf dem Thron spielte die Rolle, die der Doktor persönlich bekleidet hatte, und die Frau mit dem Stab spielte eine meiner Rollen.
    Ich habe eben geschrieben, daß ich es vorgezogen habe, nicht vorzutreten. Allerdings bewegte ich mich wohl geringfügigst, noch während ich diese Entscheidung fällte. Die Glöcklein ertönten abermals, und die große Glocke, an deren Klöppel sie hingen, schlug, wenn auch leise, einmal an.
    »Glocken!« rief die alte Frau wieder. »Du, Schwester, du Hexe oder wie immer du dich nennst, geh hinaus! Es steht eine Wache an unsrer Tür. Sag dem Hauptmann, wir möchten wissen, warum die Glocken läuten.«
    »Ich werde nicht hinausgehen auf Euer Geheiß«, entgegnete die Frau. »Ich habe Eure Frage bereits beantwortet.«
    Darauf sah der Riese auf und teilte das glatte Haar mit blutverschmierten Händen. »Wenn Glocken läuten, so darum, weil eine Neue Sonne kommt«, brummte er so tief, daß er kaum zu verstehen war. »Ich höre sie nicht, aber ich brauche sie nicht zu hören.« Obwohl ich meinen Augen mißtraute, war es Baldanders höchsteigen.
    »Willst du behaupten, wir seien verrückt?«
    »Mein Gehör ist nicht exakt. Ich habe mich einmal mit Akkustik befaßt, und je mehr man darüber

Weitere Kostenlose Bücher