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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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grenzt. Dieser Blick ist unter Frauenzimmern, einerlei welchen Gewerbes, durchaus nichts Ungewöhnliches. Als Lucy - Miss Westenra, Gott sei ihrer lieben Seele gnädig - meinen Antrag abwies, blitzte ein ähnlicher Funke auf in ihren Augen.
    »… und noch dazu um diese Zeit.«

    Sie war keine Engländerin. Ihrem Akzent nach zu urteilen, mochte sie in Deutschland oder Österreich gebürtig sein, der Hauch eines »tsch« bei »Tschendelmen« … Das London unseres Prinzgemahls, vom Buckingham-Palast bis hinunter zu Buck’s Row, ist das Senkloch Europas, verstopft mit den ejecta zweier Dutzend Fürstentümer.
    »Kommen Sie, Sir, geben Sie mir einen Kuss.«
    Einen Augenblick lang stand ich schlicht da und schaute. Sie war in der Tat ein auffallend niedliches Ding. Ihr glänzendes Haar war kurzgeschnitten und gelackt, fast wie das einer Chinesin, eine Stirnlocke wie die Backenstütze eines Römerhelms. Im Nebel erschienen ihre roten Lippen durch und durch schwarz. Unzweideutig eine von ihnen, setzte sie ein gar zu leutseliges Lächeln auf, das spitze Zähne weiß wie Perlsplitter entblößte. Ihren Geruch zu verbergen, war sie in eine Wolke billigen Parfüms von widerlicher Süßigkeit gehüllt.
    Die Straßen sind voller Unrat, offene Kloaken des Lasters. Die Toten sind überall.
    Das melodiöse Lachen des Mädchens klang, als habe man es einem Mechanismus entrungen, und es winkte mich heran, ließ seine zerlumpten Federn tiefer über die Schultern gleiten. Bei seinem Lachen musste ich abermals an Lucy denken. Die Lucy, die von Leben sprühte, nicht jenes blutsaugerische Ding, dem wir auf dem Friedhof von Kingstead den Garaus machten. Vor drei Jahren, als nur Van Helsing daran glaubte …
    »Nun gib mir schon ein Küsschen«, trällerte die junge Frau. »Nur ein klitzekleines Küsschen.«
    Sie schürzte die Lippen zu einem Herz. Erst berührten ihre Nägel meine Wange, dann ihre Fingerspitzen. Mir war kalt, sie war kalt; mein Gesicht war eine Maske aus Eis, ihre Finger Nadeln, die gefrorene Haut durchbohrten.
    »Was hat dich nur so weit gebracht?«, fragte ich.

    »Glück und wohlwollende Herren.«
    »Bin ich ein wohlwollender Herr?«, fragte ich und packte das Skalpell in meiner Hosentasche.
    »Aber ja, sehr wohlwollend sogar. Für so was hab ich einen guten Blick.«
    Ich presste die flache Seite des Instruments gegen meinen Schenkel, spürte das kühle Prickeln des Silbers noch durch das teure Tuch.
    »Ich hab ein paar Misteln bei mir«, sagte das tote Mädchen, löste einen kleinen Zweig von seinem Mieder und hob ihn über den Kopf. »Einen Kuss?«, fragte es. »Ein Kuss kostet nur einen Penny.«
    »Für Weihnachten ist es noch etwas früh.«
    »Zeit für einen Kuss ist immer.«
    Es schüttelte den Zweig, und die Beeren schaukelten wie stumme Glöckchen. Ich hauchte einen kalten Kuss auf seine rotschwarzen Lippen und zog mein Messer hervor, hielt es unter dem Mantel umfasst. Ich spürte die Schärfe der Klinge durch meinen Handschuh. Seine Wange war kühl an meiner Haut.
    Das Mädchen der vergangenen Woche, in der Hanbury Street - Chapman mit Namen, so stand es in der Zeitung, Annie oder Anne -, hat mich gelehrt, mein Geschäft mit Schnelligkeit und Präzision zu verrichten. Kehle. Herz. Eingeweide. Dann herunter mit dem Kopf. Und schon ist die Kreatur erledigt. Reines Silber und ein reines Gewissen. Geblendet von Symbolismus und Legenden, sprach Van Helsing zwar immerzu vom Herzen, doch erfüllen alle wichtigen Organe ihren Zweck. Die Nieren sind am bequemsten zu erreichen.
    Ich hatte sorgfältige Vorbereitungen getroffen, ehe ich mich aus dem Hause wagte. Eine halbe Stunde saß ich da und ließ mich der Schmerzen gewahr werden. Renfield ist tot - wirklich tot -, doch hat der Wahnsinnige die Male seines Kiefers in meiner rechten
Hand zurückgelassen. Der Halbkreis tiefer Zahnabdrücke ist seither oftmals verschorft, aber nie gänzlich verheilt. Bei der Chapman war ich betäubt von dem Laudanum, das ich einzunehmen pflege, und ging nicht mit der erforderlichen Präzision zu Werke. Auch dass ich das Messer linkshändig zu führen lernte, hat nichts geholfen. Ich verfehlte die Hauptschlagader, was dem Ding Zeit ließ zu schreien. Ich fürchte, ich verlor die Beherrschung und tat wie ein Schlächter, was ich doch hätte tun sollen wie ein Chirurg.
    Vergangene Nacht ging es erheblich besser. Zwar hielt das Mädchen ebenso hartnäckig am Leben fest, doch nahm es mein Geschenk gebührend an. Am Ende war es wohl

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