Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
holte Nikolai eine Karte aus der Jackentasche und zog sie durch den Schlitz.
»Guan hat alles bestens vorbereitet«, sagte er vergnügt und stieß die Tür auf. Gemeinsam traten sie in den Ausstellungsraum. Nikolai legte seinen Arm um Marions Schultern und dirigierte sie zügig an den Museumsbesuchern vorbei. Marions Lebensgeister kehrten zurück. Sie durfte nicht zulassen, dass Nikolai mit ihr das Museum verließ. So unauffällig wie möglich versuchte sie, in den dezent beleuchteten Räumen mit einem der Besucher Blickkontakt aufzunehmen, aber obwohl mehrere Menschen flüchtig in ihre Richtung schauten, gelang es ihr nicht. Nikolai und sie schienen ein überzeugendes Pärchen abzugeben.
Vor einer Vitrine blieb Nikolai stehen.
»Begehrenswert, nicht wahr? Ich wünschte, ich könnte diese Hälfte auch haben. Helfen Sie mir dabei?«, flüsterte er Marion ins Ohr, bevor er sie weiterzog. Seine Frechheit machte sie sprachlos. Nikolai war verrückt.
Zwei Minuten später betraten sie die Vorhalle. Nikolai steuerte zielsicher auf eine große Menschentraube zu und mischte sich unter die Touristen, eine amerikanische Reisegruppe. Sie senkte den Kopf und versuchte, sich einem der Amerikaner zu nähern.
»Sorry …«, flüsterte sie.
»Schh!« Nikolai presste ihre Schulter, bis es schmerzte. »Keinen Ton.«
Die vielen Menschen machten Marion mutig.
»Sie werden mich nicht hier erschießen«, sagte sie so leise, dass es niemand außer Nikolai hören konnte.
»Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«
»N-nein.«
»Dann halten Sie den Mund.«
Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Die Amerikaner waren damit beschäftigt, die Preise der gerade erstandenen Souvenirs zu vergleichen, und beachteten das Paar nicht, das in ihrer Mitte das Museum verließ.
* * *
Mit Mühe rappelte sich Li Yandao vom Fußboden hoch, wankte zum Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sein Kiefer pochte, und ihm war schwindelig, aber es war keine Zeit zum Jammern: Er musste schnell handeln. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er nur wenige Minuten ohnmächtig gewesen war, und mit Glück befanden sich Nikolai und Ma Li Huo noch im Museum. Die Vorstellung, dass der Russe sie in seiner Gewalt hatte, verursachte Li Yandao Übelkeit. Er hätte sie nicht allein zu dem Termin fahren lassen dürfen, auch wenn ihm seine Vernunft sagte, dass er sich keine Vorwürfe zu machen brauchte. Auf den Vizedirektor war niemals auch nur der Schatten eines Verdachts gefallen.
Li Yandao klopfte seine Taschen ab. Das Handy war weg, ebenso seine Dienstwaffe. Nikolai überließ nichts dem Zufall. Angestrengt kramte er in seinem Gedächtnis nach der Handynummer von Ling. Zwei-sechs-acht-zwei … nein … Zwei-acht-zwei-sechs-drei … Es war sinnlos. Die Nummer war in seinem Handy abgespeichert, nicht in seinem Hirn, dem das Denken ohnehin gerade schwerfiel. Er zog Guans Telefon zu sich heran, wählte die Nummer der Zentrale des Polizeipräsidiums und ließ sich durchstellen.
Während er auf das nervtötende Piepen in der Leitung lauschte, suchte Li Yandao den Schreibtisch ab und entdeckte sein Handy. Angeekelt zog er es aus der Kaffeetasse und probierte, es freizuschalten. Keine Reaktion. Er hätte genauso gut versuchen können, mit einem Baozi- Knödel zu telefonieren.
»Hauptkommissar Ling Jiao.«
»Hier ist Li Yandao.«
»Was gibt’s?«
»Nikolai hat Fräulein Reu-Ta als Geisel mitgenommen! Er ist bewaffnet. Der Polizist, der sie bewachen sollte, ist verschwunden. Vizedirektor Guan vom Historischen Museum ist der Drahtzieher der Schmuggler. Er ist auf der Flucht. Ich bin k.o. geschlagen worden und habe weder mein Handy noch meine Pistole. Mein Auto steht zwei Kilometer von hier in einem Stau.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Leider doch. Leite eine Großfahndung ein! Das Museum muss umgehend abgeriegelt werden. Keiner darf raus, keiner darf rein. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
»Wann bist du k.o. gegangen?«
»Vor fünf, sechs Minuten. Länger ist es auf keinen Fall her.«
»Ich lege sofort los.«
»Gut.«
»Und – deiner Deutschen wird nichts geschehen. Ich kriege den Russen. Langsam nehme ich die Angelegenheit persönlich.«
* * *
Kaum hatten sie das Museum verlassen, beschleunigte Nikolai sein Tempo und eilte um das Gebäude herum in eine Seitenstraße. Marion stolperte mühsam neben ihm her. Wegen der ungewohnt hohen Absätze ihrer Stiefel konnte sie kaum Schritt halten. Vor einem Sportgeschäft stieß Nikolai sie auf
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