Die verborgene Grotte
nicht mehr viel Zeit blieb.
Mir tat das sehr weh. Ein so warmherziger, freundlicher kleiner Junge lag im Sterben und ich konnte nicht mehr für ihn tun, als ihm die Hand zu halten und seine Stirn zu kühlen, wenn die Qualen zu groß wurden.
Dann kam eines Tages einer der ältesten Jungen blass und müde zum Frühstück. Ich schickte ihn sofort zurück ins Bett, wo er den ganzen Tag liegen blieb. Am Abend untersuchte der neue Heimleiter ihn sorgfältig und schloss sich danach in sein Büro ein. Als er kurze Zeit später wieder herauskam, hatte er Medizin bei sich. Er hatte sie in einen merkwürdig plumpen Keramikbecher gefüllt, der innen und außen mit seltsamen Zeichen versehen war. Der Heimleiter forderte den Jungen auf, daraus zu trinken. Der tat, wie ihm geheißen war, und schlief bald darauf fest ein.
Am nächsten Morgen lag der Kranke tot in seinem Bett. Alle anderen Kinder weinten und auch der Heimleiter war sehr bekümmert. Ich fragte ihn, was für Medizin das gewesen sei, die er dem Jungen gegeben hatte. Vielleicht glaubteer, ich wollte ihn kritisieren, denn er antwortete mit finsterer Miene.
›Das war ein sehr teures und hochwirksames Medikament. Wenn es nicht schon zu spät gewesen wäre, hätte es die Krankheit zweifellos geheilt.‹
Am darauffolgenden Tag verschwand der Heimleiter in die Stadt. Er kam mit Bonbons zurück, die er als kleinen Trost unter den Kindern verteilte. Er wollte nicht, dass sie traurig waren oder Angst bekamen. So verstand ich es damals jedenfalls.
Nur wenige Tage später war es schon wieder so weit. Ein anderer Junge fing an, sich schlecht zu fühlen. Besorgt schickte ich auch ihn zu Bett. Der Heimleiter untersuchte ihn und verabreichte ihm die teure Medizin in dem seltsamen Becher. Aber auch dieser Junge schlief gleich darauf ein, um nie mehr aufzuwachen.
Danach erkrankten die Jungen im Kinderheim einer nach dem anderen, es war wie eine tödliche Epidemie. Jedes Mal begann es damit, dass sie von einer unerklärlichen Müdigkeit heimgesucht wurden, und wenn sie dann bettlägrig waren, bekamen sie die Medizin des Heimleiters. Und doch starben sie alle. Langsam breitete sich Panikim Kinderheim aus und der Heimleiter war verzweifelt. Wer würde als Nächster sterben?
Das Merkwürdigste aber war, dass weder die Mädchen noch der kränkliche August betroffen waren. Er, der sonst jede erdenkliche Krankheit geradezu anzog, blieb verschont.
Dagegen wurde er immer heftiger von anderen Schmerzen gequält. Die Kinderlähmung zog und zerrte an seinem kleinen Körper und schien ihn von innen heraus aufzufressen. Er aß kaum etwas und schlief noch weniger. Eines Nachts klingelte er und ich eilte mit den lächerlichen Schmerzmitteln, zu denen wir damals Zugang hatten, an sein Bett. August weinte leise und drückte meine Hand. Er fragte, warum nicht er anstelle seiner gesunden Freunde sterben könne. Er, der nichts lieber wollte als das.
Ich konnte ihm keine Antwort geben. Nur versuchen, die Tränen zu verbergen, die mir über die Wangen liefen.
Der Heimleiter tat alles, damit die Kinder den Mut nicht verloren. Er kaufte Süßigkeiten und Spielsachen und für mich einen herrlichen Schal. Aber die heimtückische Krankheit hatte alles verändert. Im Kinderheim Solvilla war nichts mehr wie früher.
Als alle Jungen gestorben waren, bat ich Gott darum, dass es nun ein Ende haben möge. Aber stattdessen kamen nun die Mädchen an die Reihe. Eine nach der anderen schlief für immer ein, trotz der Medizin des Heimleiters – der einzigen, die wir hatten.
Ein kleines Mädchen schob den Becher von sich und weigerte sich. Da wurde der Heimleiter wütend.
›Du musst deine Medizin nehmen! Los! Mund auf!‹
Ich versuchte zu protestieren, aber er hielt das weinende Mädchen fest und zwang sie, die Flüssigkeit zu trinken. Bald darauf war auch sie tot.
Dass diese Medizin nicht heilsam war, das war mir nun klar. Die Frage war nur, ob sie mehr schadete als nützte.
Schließlich war nur noch ein Mädchen übrig und ich wachte mit Argusaugen über sie. Ich sorgte dafür, dass sie immer zwei Halstücher und eine dicke Pelzmütze trug, und ich lüftete den Schlafsaal mehrere Stunden am Tag. Aber eines Tages wurde auch dieses Kind von denselben Symptomen befallen wie alle anderen. Eine lähmende Müdigkeit übermannte sie. Ich schickte sie zu Bett und mit Trauer im Herzen wollte ichden Heimleiter holen. Aber ich konnte ihn nirgends finden.
Da ging ich zu seinem Büro und klopfte an.
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