Die verborgene Grotte
Als ich keine Antwort bekam, tat ich in meiner Verzweiflung das, was er mir strengstens verboten hatte. Ich öffnete die Tür und betrat seinen privaten Raum.
Dort sah es überhaupt nicht mehr aus wie zu Fräulein Millas Zeiten. Das Büro ähnelte vielmehr einem Laboratorium. Auf dem Schreibtisch standen ein Bunsenbrenner und Unmengen von Gefäßen, Flaschen mit unterschiedlichen Flüssigkeiten und irgendwo dazwischen der Becher, den der Heimleiter für seine Medizin verwendete.
Dann fiel mein Blick auf den Brief. Und Gott vergebe mir, ich konnte nicht anders, als ihn zu lesen. Der Bezirksarzt teilte darin mit, dass die Krebserkrankung des Heimleiters leider tödlich war und er nur noch wenige Monate – wenn überhaupt – zu leben hatte. War das eine Erklärung? Und wenn ja, wofür?
Da wurden Schritte vor der Tür laut. Schuldbewusst huschte ich nach nebenan in einen Abstellraum und drückte mich dort an die Wand, als der Heimleiter das Zimmer betrat.
Es fühlte sich unwürdig an, so dazustehen – wie ein Dieb im Dunkeln, aber mit jeder Sekunde wurde es unmöglicher, einfach aus der Kammer zu kommen und um Entschuldigung zu bitten. Also blieb ich, wo ich war, während der Heimleiter in seinen Unterlagen wühlte.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an das schummrige Licht, und nachdem ich keine andere Beschäftigung hatte, studierte ich die Dinge, die der Heimleiter in der Kammer aufbewahrte. An den Wänden hingen Regale, auf denen wie in einer Speisekammer zahllose Gläser aufgereiht standen. Gläser mit in Formalin eingelegten Tierkörpern.
Ich presste mir die Hand vor den Mund, um mich nicht zu übergeben. War das hier etwa die Art von Forschung und Experimenten, mit der der Heimleiter sich befasste? Da entdeckte ich genau in Augenhöhe ein Tagebuch, das aufgeschlagen vor mir lag.
Natürlich konnte ich der Neugier nicht widerstehen. Vielleicht würde ich hier, in den Aufzeichnungen des Heimleiters, eine Antwort auf alle meine Fragen finden.
Die erste Notiz stammte von dem Tag, an dem der Heimleiter in das Kinderheim eingezogenwar. Es war die zufriedene Feststellung, dass es hier ›eine Menge frischer Körper‹ gab, mit denen man arbeiten konnte. Die Worte jagten mir einen kalten Schauer über den Rücken. Aber ich konnte nicht aufhören zu lesen.
Den nächsten Eintrag hatte er an dem Tag gemacht, an dem der erste Junge gestorben war. Erst verstand ich überhaupt nichts. Die Schrift des Heimleiters war ungleichmäßig und unleserlich. Aber einige Worte konnte ich doch entziffern: ›Schlafmittel‹, ›Metamorphose‹ und ›missglücktes Experiment‹.
Mit klopfendem Herz blätterte ich weiter. Zu jeder Erkrankung und zu jedem Todesfall gab es Aufzeichnungen. Ich las Sachen wie ›neuer Versuch‹, ›etwas höhere Dosis‹ und ›braucht stärkeren Trank‹. Dann schlug ich atemlos die letzte Seite auf.
›Das Rätsel ist gelöst. Was fehlt, ist eine Brücke zu dem neuen Körper. Ein Stück von mir. Blut? Heute wird es mir gelingen, heute werde ich den Schritt machen.‹
Das war zu groß, zu unglaublich, zu wahnsinnig, um es zu fassen. Mein Verstand protestierte und suchte verzweifelt nach einer anderen einleuchtenden Erklärung, aber ich konnte mich der Wahrheit nicht verschließen: Der Heimleiterversuchte mithilfe der Kinderkörper, sein eigenes schäbiges Leben zu retten. Er hatte sie alle umgebracht, als Teil seiner missglückten Experimente. Nun waren nur noch zwei übrig: das letzte, bereits kranke Mädchen und der arme August.
Aber wie hatte er sich das vorgestellt? Dass er sie alle vorher vergiftet haben musste, möglicherweise mit einem Schlafmittel im Essen, daran bestand kein Zweifel. Die Medizin aus dem seltsamen Becher hatte die Kinder dann endgültig getötet. Aber wie hätte er auf diese Weise seinen eigenen, todkranken Körper retten sollen?
Als mir die Wahrheit bewusst wurde, schnappte ich so laut nach Luft, dass es ganz sicher im Büro zu hören gewesen sein musste. Doch der Heimleiter schien nichts bemerkt zu haben, und als er schließlich ging, konnte ich die Kammer unbemerkt verlassen.
Ich war gerade dabei, dem kleinen Mädchen vorzulesen, als der Heimleiter an diesem Abend mit seinem Becher kam. Die Kleine weinte. Mit ihr sollte es genauso enden wie mit allen anderen Kindern zuvor. Aber das konnte – und würde – ich nicht zulassen.
Ich holte tief Luft und stellte mich entschlossenzwischen den Heimleiter und das Krankenbett.
›Was wollen
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