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Die verborgene Grotte

Die verborgene Grotte

Titel: Die verborgene Grotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Sie, Fräulein Björk? Das Kind braucht seine Medizin, das wissen Sie doch.‹
    Ich kämpfte mit den Tränen und nickte.
    ›Ja, natürlich soll sie ihre Medizin bekommen. Aber ich frage mich, ob nicht ich sie ihr geben kann. Ich möchte ihr so gerne erst das Buch zu Ende vorlesen. Es sind doch nur noch ein paar Seiten.‹
    Der Blick des Heimleiters wanderte von mir zu dem Kind. Er dachte einen Augenblick nach, dann gab er mir vorsichtig den Becher.
    ›Das wird schon in Ordnung sein. Sie wissen ja, wie wichtig die Medizin ist. Es ist unsere einzige Hoffnung.‹
    Wieder nickte ich.
     
    Sowie der Heimleiter uns alleine gelassen hatte, eilte ich an das Bett des kränklichen kleinen August. Der Junge sah mich flehend an. Seine Augen schickten dieselben stummen Bitten aus wie immer: ›Bitte, mach, dass dieses Leid ein Ende hat.‹
    Tränen liefen mir die Wangen herunter, als ich ihm den Becher an die Lippen hielt. August sagte nichts, aber es war, als hätte er verstanden. Er nahm den Becher und trank.
    In diesem Augenblick kam der Heimleiter zurück ins Zimmer. Er starrte erst August an und dann mich. Ich stellte den leeren Becher auf dem Nachttisch ab.
    ›Neeein!‹, brüllte er und raste auf uns zu. ›Nicht er!‹
    Ich drehte mich zu ihm um, um den hilflosen Jungen mit meinem Körper zu beschützen. Aber das war nicht nötig. Stöhnend sank der Heimleiter vor mir zu Boden.
    Im selben Moment gab August ein friedvolles Seufzen von sich, das im nächsten Augenblick von einem heftigen, krampfhaften Einatmen gefolgt wurde. Dann veränderte sich sein Gesicht. Ein wahnsinniger, blinder Zorn verdunkelte seine sonst so freundlichen Züge und verzerrte sie zu einer bösen Fratze.
    ›Was hast du getan?‹, fauchte der Junge mit erschreckend tiefer und rauer Stimme.
    Das war nicht mehr Augusts Stimme und doch erkannte ich sie sofort. Auch in seinen Augen war nicht mehr die geringste Spur des warmherzigen kleinen Jungen zu finden. Dort herrschte nur noch eine unheimliche Kälte. Die Kälte eines erwachsenen Mannes, eines skrupellosen Mörders.
     
    Ich schnappte das Mädchen, legte sie mir über die Schulter und rannte los, ohne mich noch einmal umzudrehen. Unter anderem Namen begann ich ein neues Leben und sorgte dafür, dass das Kind eine Familie und ein neues Zuhause bekam. Später las ich in der Zeitung, dass man in dem auf mysteriöse Weise verlassenen Kinderheim Solvilla zwei tote Körper gefunden hatte. Einen älteren Mann und einen kleinen Jungen.
    Das Experiment des Heimleiters mit dem seltsamen Becher war schließlich doch noch gelungen. Wenngleich nicht so, wie er es sich erhofft hatte.
    Nun habe ich mein Gewissen erleichtert. Ja, ich habe einem todkranken Jungen auf die andere Seite hinübergeholfen und ich hoffe von ganzem Herzen, dass seine Seele dort angekommen ist, bevor der Geist des Heimleiters in seinen kleinen Körper gefahren ist.
     
    So habe ich endlich Frieden gefunden.
    gez. Frl. Alma Björk
    vormals Kinderpflegerin«

K apitel 6

    Nachdem Miriam Matin zu Ende gelesen hatte, machten sie sich wieder daran, Kartons und Kisten zu sichten. Es gab noch immer schrecklich viele Gegenstände, die untersucht und katalogisiert werden mussten, aber Karl erledigte seine Arbeit nun, da er wusste, dass er nach der Quelle der Jugend suchte, selbst wenn es nur ein alter Becher war, mit viel größerem Interesse.
    Auf dem Heimweg fühlte er sich stolz und erwachsen. Den Becher zwischen all den Hinterlassenschaften von Pilkins zu finden, würde eine Weile dauern. Er hatte den ganzen Tag lang Kisten durchwühlt und dennoch nicht das Gefühl, irgendwie vorangekommen zu sein. Aber viel wichtiger war, dass die große Miriam Matin ihn für hilfreich befunden hatte, dass sie ihm etwas zutraute. Schade nur, dass er weder Großvater noch Mama von seinem Nebenjob und dem Bechererzählen konnte. Er hatte es schließlich versprochen.
    Am Ende hatte Karl sich sogar ein Herz gefasst und Miriam Matin gefragt, ob sie ihm nicht einen Zaubertrick beibringen könnte.
    »Vielleicht«, hatte sie geantwortet. »Wenn du dich bewährst, kann ich dir bei Gelegenheit etwas zeigen. Schließlich braucht ein anständiger Zauberer auch einen Lehrling, nicht wahr?«
    Ja, es war ein guter Tag gewesen.
    Karl warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Er kam nicht mal zu spät zum Essen.
     
    Als Karl durch die Tür trat, roch es im ganzen Haus nach Fleischwurst.
    »Ich bin heute in der Fabrikantenvilla fertig geworden«, sagte er beim Essen und

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