Die verborgene Wirklichkeit
formulieren. In den ersten Jahrzehnten der Theorie bis Mitte der neunziger Jahre bediente man sich in den Forschungsarbeiten zu großen Teilen Näherungsgleichungen, die nach Überzeugung vieler Fachleute zwar die groben Merkmale der Theorie offenlegen konnten, aber keine weitergehenden Vorhersagen ermöglichten. Die Fortschritte der jüngeren Zeit, denen wir uns als Nächstes zuwenden werden, haben die Kenntnisse weit über das hinaus vorangebracht, was man mit Näherungsverfahren erreichen kann. Definitive Vorhersagen sind zwar immer noch schwer greifbar, aber eine neue Perspektive hat sich herauskristallisiert. Sie erwächst aus einer Reihe wichtiger Fortschritte, durch die sich eine großartige neue Aussicht auf die potenziellen Folgerungen der Theorie eröffnet hat. Eine davon sind neue Varianten von Parallelwelten.
KAPITEL 5
Schwebende Universen gleich nebenan: Das Branen- und das zyklische Multiversum
Vor vielen Jahren saß ich eines Abends noch spät in meinem Arbeitszimmer an der Cornell University und arbeitete die Abschlussprüfung aus, die die Physik-Erstsemester am nächsten Morgen ablegen sollten. Da es sich um einen Kurs handelte, in dem Studenten besonders gefordert werden sollen, wollte ich die Sache ein wenig lebendiger gestalten und ihnen eine etwas schwierigere Aufgabe stellen. Aber ich war spät dran und hatte Hunger; anstatt sorgfältig verschiedene Möglichkeiten durchzugehen, wandelte ich eine Standardaufgabe ab, die den meisten von ihnen bereits bekannt war, fügte sie den Prüfungsunterlagen hinzu und fuhr nach Hause. (Die Einzelheiten spielen eigentlich keine Rolle, aber in der Aufgabe ging es darum, die Bewegung einer Leiter vorherzusagen, die an einer Wand lehnt, den Halt verliert und umfällt. Die Abwandlung der Standardaufgabe bestand darin, dass ich die Dichte der Leiter entlang ihrer Länge variieren ließ.) Am nächsten Morgen, während der Prüfung, setzte ich mich hin und wollte die Ergebnisse aufschreiben. Dabei stellte ich fest, dass die Aufgabe durch meine scheinbar bescheidene Abwandlung äußerst schwierig geworden war. Die Lösung der ursprünglichen Aufgabe nahm vielleicht eine halbe Seite in Anspruch. Jetzt brauchte ich sechs Seiten. Und das lag nicht an meiner großzügigen Handschrift.
Diese kleine Episode stellt eher die Regel als die Ausnahme dar. Lehrbuchbeispiele sind etwas ganz Besonderes: Sie wurden sorgfältig so gestaltet, dass sie mit vernünftigem Aufwand vollständig zu lösen sind. Wenn man sie aber nur ein klein wenig abwandelt, diese Annahme verändert oder jene Vereinfachung weglässt, können sie sehr schnell anspruchsvoll oder sogar unlösbar werden. Anders gesagt: Sie werden unter Umständen ebenso schwierig wie die Analyse typischer Situationen aus der Praxis.
Tatsächlich sind die meisten Phänomene – von den Planetenbewegungen bis zu den Wechselwirkungen der Teilchen – in ihrer großen Mehrheit so komplex, dass man sie mathematisch nicht genau beschreiben kann. Die theoretische Physik steht daher vor der Aufgabe herauszufinden, welche Komplikationen
man in einem bestimmten Zusammenhang außer Acht lassen kann, so dass man eine Formulierung erhält, die mathematisch gut handhabbar ist und trotzdem alle wesentlichen Details berücksichtigt. Wenn man die Erdbahn vorhersagen will, sollte man die Gravitationswirkung der Sonne berücksichtigen; bezieht man auch den des Mondes mit ein, umso besser, aber die Sache wird damit mathematisch erheblich komplexer. (Im neunzehnten Jahrhundert veröffentlichte der französische Mathematiker Charles-Eugène Delaunay zwei Bände von jeweils 900 Seiten über die Verwicklungen des gravitationsbedingten Tanzes von Sonne, Erde und Mond.) Will man die Sache noch weiter treiben und den Einfluss aller anderen Planeten in Rechnung stellen, wird die Analyse ungeheuer kompliziert. Zum Glück kann man für viele Zwecke alle Einflüsse außer den der Sonne außer Acht lassen, weil die anderen Körper im Sonnensystem im Vergleich zur Sonne nur sehr geringe Wirkungen auf die Erdbewegung ausüben. Solche Näherungslösungen verdeutlichen meine zuvor geäußerte Behauptung, die Kunst der Physik liege in der Entscheidung, was man berücksichtigt und was nicht.
Aber wie praktizierende Physiker nur allzu gut wissen, sind Näherungslösungen nicht nur eine gute Möglichkeit, Fortschritte zu erzielen; gelegentlich bergen sie auch Gefahren. Komplikationen, die zur Beantwortung der einen Frage nur eine geringfügige Bedeutung
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