Die verborgene Wirklichkeit

Raumes verlangsamt. Das war der Schlachtplan, den sich die beiden Wissenschaftlerteams zurechtgelegt hatten.
    Um ihn auszuführen, mussten sie nun noch die Bleistiftmarkierungen des Universums datieren. Dazu hatten die Teams herauszufinden, wann das Licht von einer bestimmten Supernova ausgesandt wurde. Das lässt sich aus den verfügbaren Daten indes erschließen: Da der Unterschied zwischen der scheinbaren und der absoluten Helligkeit einer Supernova ihre Entfernung verrät und da wir die Lichtgeschwindigkeit kennen, sollten wir sofort ausrechnen können, wie lange das Licht von der Supernova unterwegs war. Die Überlegung ist richtig, allerdings sollte eine wesentliche Komplikation dabei erwähnt werden. Sie hat mit der »nachträglichen« Dehnung des Lichtweges zu tun.
    Wenn Licht in einem expandierenden Universum unterwegs ist, legt es eine bestimmte Entfernung zum einen wegen seiner eigenen Geschwindigkeit
im Raum zurück, zum anderen weil der Raum selbst expandiert. Dies kann man mit dem Erlebnis auf einem Laufband am Flughafen vergleichen. Obwohl man die gleiche Gehgeschwindigkeit beibehält, kommt man schneller voran, weil das Laufband die Bewegung beschleunigt. Ganz ähnlich ergeht es dem Licht von einer weit entfernten Supernova: Ohne dass seine Eigengeschwindigkeit steigt, legt es eine größere Strecke zurück, weil seine Bewegung durch die Dehnung des Raumes verstärkt wird. Um zutreffend zu berechnen, wann das Licht, das wir heute sehen, ausgesandt wurde, müssen wir beide Beiträge zu der zurückgelegten Entfernung berücksichtigen. Die mathematischen Vorgehensweisen sind dabei ein wenig kompliziert (wer neugierig ist, kann in den Anmerkungen nachsehen), doch das Phänomen an sich ist mittlerweile gründlich analysiert. 7
    Beide Arbeitsgruppen bezogen in ihre Auswertung sowohl diesen Teilaspekt als auch zahlreiche andere Details von Theorie und Beobachtung ein; auf diese Weise konnten sie den Skalenfaktor des Universums zu verschiedenen, aus den Daten ableitbaren Zeitpunkten in der Vergangenheit ermitteln. Mit anderen Worten: Sie fanden eine Reihe datierter Bleistiftmarkierungen für die Größe des Universums, mit deren Hilfe sie feststellen konnten, wie sich die Expansionsgeschwindigkeit in der Geschichte des Kosmos verändert hat.
    Kosmische Beschleunigung
    Nachdem die beiden Teams alles immer wieder überprüft hatten, veröffentlichten sie ihre Schlussfolgerungen. Entgegen lange gehegten Erwartungen hat die Ausdehnung des Raumes sich während der letzten sieben Milliarden Jahre nicht verlangsamt. Sie hat sich beschleunigt .
    Eine Zusammenfassung dieser Pionierarbeiten und späterer Beobachtungen, die das Argument noch untermauerten, zeigt Abbildung 6.2 . Wie sich in den Beobachtungen herausstellte, verhielt sich der Skalenfaktor bis vor ungefähr sieben Milliarden Jahren tatsächlich so, wie man es erwartet hatte: Seine Zunahme verlangsamte sich allmählich. Hätte sich diese Entwicklung fortgesetzt, dann hätte die Kurve irgendwann in die Waagerechte übergehen oder sogar abwärts verlaufen müssen. Die Befunde zeigen jedoch, dass vor ungefähr sieben Milliarden Jahren etwas Dramatisches geschah. Die Kurve bog sich nach oben, das heißt, die Wachstumsrate des Skalenfaktors nahm von diesem Zeitpunkt an immer stärker zu. Das Universum legte den Schnellgang ein, und die kosmische Expansion beschleunigte sich.

    Abbildung 6.2 Die zeitliche Entwicklung des kosmischen Skalenfaktors. Wie man erkennt, verlangsamte sich die Expansion des Kosmos, ehe sie vor rund sieben Milliarden Jahren stetig an Geschwindigkeit gewann.
    Unser kosmisches Schicksal ergibt sich aus der Form dieser Kurve. Bei beschleunigter Expansion wird der Raum unbegrenzt expandieren, womit weit entfernte Galaxien immer weiter und immer schneller von uns zurückweichen. In rund 100 Milliarden Jahren werden alle Galaxien, die sich nicht in unserer Nachbarschaft befinden (das heißt in einem durch Gravitation zusammengehaltenen Haufen von rund einem Dutzend Galaxien, der als »lokale Gruppe« bezeichnet wird), hinter unserem kosmischen Horizont verschwinden und damit in einen Bereich eintreten, der unseren Beobachtungsmöglichkeiten für alle Zeiten entzogen ist. Wenn künftige Astronomen dann nicht über Aufzeichnungen verfügen, die ihnen aus einer früheren Ära hinterlassen wurden, werden sie mit ihren kosmischen Theorien nach Erklärungen für ein Inseluniversum suchen, in dem Galaxien, deren Zahl nicht größer ist als die der