Die verborgenen Bande des Herzens
weiß man instinktiv, dass jene, die dort zurückbleiben, sofort anfangen werden, über dich zu reden, kaum dass du die Tür hinter dir zugemacht hast. Vielleicht ist es die Art, wie Sally mich aus halb gesenkten Lidern anblickt, als ich an ihr vorbeigehe. Als sich unsere Blicke kreuzen, lächelt sie kühl und förmlich.
»Wiedersehen«, sagt sie knapp.
Oder vielleicht ist es die Art, wie Dr. Hammond in der Tür stehen bleibt und wartet, bis ich gegangen bin, statt sich unverzüglich wieder hinter seinen Schreibtisch zu setzen. Wie er es kaum erwarten kann, dass ich weg bin, damit er endlich mit Sally über mich herziehen kann. Wahrscheinlich treibt er es mit ihr. Muss eine ziemlich langweilige Angelegenheit sein, die beiden zusammen im Bett. Nur nach vorheriger Terminvereinbarung. Wahrscheinlich ist das Datum sogar in diesem Kalender auf seinem Schreibtisch vermerkt. Mittwoch, 17.30 Uhr: Sex mit Sally.
Draußen bleibe ich kurz stehen und lausche an der Tür. Ich sehe ihn regelrecht vor mir, den Blick, den die beiden jetzt tauschen.
Sallys helles trillerndes Lachen dringt durch die Tür.
»Können Sie sich vorstellen …?«, höre ich, doch der Rest ist unverständliches Gemurmel.
Hammonds Stimme ist leise, ruhig. »Ich denke eher …«, erwidert er, aber ich bleibe nicht länger stehen, ich will gar nicht hören, was er denkt. Es ist mir egal, was er oder diese Sally denkt.
Vollidioten, alle beide.
10. Kapitel
Carol Ann
M eine Nächte sind traumlos, hier in Donegal. Mein Schlaf ist ein makelloses weißes Laken, frei von Bildern. Ich habe keine Vergangenheit, keine Erinnerungen, die ich heraufbeschwören könnte. Mein Schlaf ist so friedlich wie jener der Toten auf dem Friedhof gegenüber. Zu meiner Überraschung stört es mich nicht, neben den Toten zu schlafen. Tagsüber beobachte ich die Friedhofsbesucher, und nach Einbruch der Dämmerung, wenn das Sommerblau des Himmels sich verdunkelt und die Nacht das Grün der Bäume in Schwärze taucht, sehe ich zu, wie auf den Gräbern die Lichter in ihren rotwandigen Glasbehältern aufflackern. Später, wenn die Nacht tiefschwarz wird, funkeln diese Grablichter wie die Augen wilder Tiere, lebendige Wesen inmitten all der Toten.
Tagsüber gehe ich spazieren. Ich wandere meilenweit auf sanft gewellten Landstraßen, vorbei an Hecken aus cremefarbenen Geißblattblüten und blutroten Fuchsien. Vorbei an Mooren, die gesprenkelt sind mit Steinen und Farnen und Jakobskreuzkraut, und an Gräben mit wild wucherndem Mädesüß. Heute ging ich wieder zu dem Hügel, der sich zwischen Killymeanan und der Küste erhebt, nur hielt ich mich diesmal westwärts, wählte den Pfad, der um den Hügel herum und dann hinunter zu den Dünen führt. Der Sand dort ist weiß wie Elfenbein und fühlt sich weich und trocken an, wenn man barfuß darübergeht. Dort wachsen Strandhafer und Dünengras, sie erheben sich aus dem Sand wie letzte Haarbüschel auf einem kahl werdenden Schädel. Hat man die letzte Düne erklommen, wird der Blick plötzlich weit, ein geheimer Strand breitet sich vor einem aus, wo der Sand feucht und hart wie Beton ist. Unten am Wasser sind die Spuren der Gezeiten zu erkennen, der Abdruck der Wellen, die silbrig über den Sandstrand hereinbrechen.
Und dann sah ich es. Auf der Ostseite des Strandes, auf einem Hügel oberhalb eines breiten Felsvorsprungs stand ein kleines Häuschen, dessen Außenwände von dem gleichen Blau waren wie das Meer. Ich suchte mir einen Weg über die Felsen, erklomm den kleinen Hügel, bis ich vor der Hütte stand. Hier oben war sie Wind und Wetter ausgesetzt, die Haustür fehlte, und innen bedeckte ein Teppich aus Schafkot und den Scherben der zerbrochenen Fensterscheiben den Boden. Ein alter Kocher lag umgekippt da, und an der Wand dahinter hing noch ein Fetzen Tapete. Quadrate mit roten Kochlöffeln und Krügen, vor einem weißen Hintergrund.
Die Hütte war winzig, das Schlafzimmer, ein kleines Viereck, gerade ausreichend für den rostigen Metallrahmen des Stockbetts. In einem schrankgroßen Anbau an der Hinterwand des Hauses befand sich das Klosett, dessen Holzdeckel sich aus den Scharnieren gelöst hatte und seitlich an der grünen fleckigen Porzellanschüssel herunterhing. Im Kontrast zu den winzigen Dimensionen der Zimmer wirkten die Fenster riesig. Nur noch wenige Reste von den alten Glasscheiben waren übrig geblieben und steckten noch in den Rahmen. Trotz des desolaten Zustandes des Häuschens konnte man sich vorstellen, wie es
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