Die verborgenen Bande des Herzens
sehr, weinen Sie sich ruhig an meiner Schulter aus. Ich will mir wenigstens vorher noch die Anrufe auf ihrem Handy ansehen. Es wäre bestimmt nicht zu meinem Schaden, wenn ich den Fall als teilweise gelöst übergeben könnte.
Ich schalte zum ersten Mal Carol Anns Handy ein. Es gibt eine Nachricht auf der Mailbox. Sally, aus der Praxis eines gewissen Dr. Hammond. Anscheinend ist Carol Ann nicht zu ihrem Termin erschienen, und Sally will nun wissen, ob ein neuer Termin gewünscht wird. Ich notiere mir die Nummer und blättere dann die eingegangenen SMS durch, ob irgendetwas Auffälliges dabei ist, und mache mir Notizen. Alle Anrufe, alle SMS müssen sorgfältig überprüft werden.
Wenn die Zeiteinstellung auf dem Handy stimmt, dann erfolgte der Anruf aus der Arztpraxis an dem Morgen, nachdem sie verschwunden ist. Mein erster Gedanke ist, vielleicht hat ihr der Arzt etwas wirklich Schlimmes mitgeteilt, etwa dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist. Woraufhin sie sich lieber umgebracht hat, sich vielleicht von einer Klippe gestürzt hat, statt sich einer Chemotherapie zu unterziehen. Doch wie sich herausstellt, ist Dr. Hammond kein praktischer Arzt. Er ist Psychiater, Nervenarzt.
Seine Praxis befindet sich im zweiten Stock eines Gebäudes in einem heruntergekommenen Stadtteil. Er ist ein alter Knabe, Anfang sechzig würde ich sagen, aber er könnte auch schon älter sein. Er hat dichtes graues Haar und einen kurz geschnittenen grauen Bart, und er riecht nach Pfefferminz. Kleine gepflegte Hände; kurz gefeilte Nägel. Er trägt über einem dunkelblauen Hemd einen Blazer mit einem blauen Einstecktuch in der Brusttasche. Ich hasse Männer, die farblich passende Einstecktücher tragen.
Hammond hat diesen steifen, betulichen Altmännerton drauf, bei dem mir regelmäßig der Kümmel hochgeht, und er schaut einen an mit einem Blick, als wäre er überzeugt, die Welt werde demnächst zugrunde gehen, weil heutzutage niemand mehr Manieren besitzt. Normalerweise sind die Leute ein bisschen vorsichtig und achten darauf, dass sie der Polizei nicht zu frech kommen, doch Hammond bleibt vollkommen ungerührt. Schon seine ersten Worte bringen mich auf die Palme.
Er sagt zwar nicht ausdrücklich »junge Dame« zu mir, aber genau diesen Ton hat er drauf. Ich höre, wie ein Pfefferminzbonbon gegen seinen Gaumen klickt, während wir uns unterhalten. Er blättert in seinem dicken Terminkalender, der vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Wie er erklärt, hatte Mrs Matthews am Donnerstag, den 24. Mai um fünf Uhr nachmittags einen Termin bei ihm. Sie erschien nicht zu diesem Termin, was ungewöhnlich war. Er bat Sally, seine Arzthelferin, bei ihr anzurufen und herauszufinden, ob sie ihn einfach vergessen hatte, und ob sie einen neuen Termin vereinbaren wollte.
»Warum hat Sally nicht bei ihr zu Hause angerufen – warum die Handynummer?«
Hammond greift zu dem Telefon auf seinem Schreibtisch und drückt auf einen Knopf.
»Sally, könnten Sie bitte mal einen Moment hereinkommen?«, sagt er leise in den Hörer, dann legt er wieder auf. Alle seine Bewegungen sind irgendwie maßvoll, verhalten, beherrscht.
Als Sally hereinkommt, ist mein erster Gedanke, dass Frauen über vierzig nicht Sally heißen sollten. Der Name hat so etwas Mädchenhaftes an sich. Wie soll man in Rente gehen mit so einem Namen? Können diese Frauen sich nicht Sarah oder ähnlich nennen, sobald sie anfangen, knitterfreie Jerseyhosen zu tragen?
Diese Sally hier ist adrett und selbstzufrieden. Sie blickt mich durch ihre schmal gefasste Brille forschend an, und ich sehe förmlich, wie sich in ihrem Kopf ein Schalter umlegt, sobald ich zu reden anfange. Ich erlebe so etwas oft bei Frauen aus der Mittelschicht wie Sally. Ich habe etwas an mir, das sie veranlasst, sich hinter ihrem Twinset aus Merinowolle und ihrem dünnlippigen Lächeln zu verschanzen. Ich weiß nicht, was es ist. Es ist mir auch nicht wichtig genug, es herauszufinden.
»Meiner Kenntnis nach zog es Mrs Matthews vor, über ihre Handynummer kontaktiert zu werden«, erwidert Sally, als ich die Frage wiederhole. »Wir waren angewiesen, nicht ihre Festnetznummer anzurufen. Ihre Festnetznummer liegt uns gar nicht vor, obwohl wir sie uns bei Bedarf, wie ich zu behaupten wage, jederzeit hätten besorgen können.«
»Ist sie in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert?«, will ich von Dr. Hammond wissen.
»Ja.«
»Wie lange ist sie schon bei Ihnen in Behandlung?«
»Etwa neun
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