Die verborgenen Bande des Herzens
anders, als ich es von zu Hause gewohnt bin; hier wird jede Ruhestätte von Kantsteinen eingefasst, und das Rechteck, das dadurch entsteht, erweckt unwillkürlich den Eindruck, man hätte dem Toten ein Bett bereitet. Auf manchen Gräbern sind Fotos zu sehen, frische Blumen und kleine Heiligenfiguren oder Bildnisse: Madonnen und Engel und das Herz Jesu und Gebetsbücher aus Stein mit eingemeißelten Inschriften. Ich kann von meinem Fenster aus nicht sehen, wie das Grab geschmückt ist, das der Mann besucht, doch der Grabstein ist jedenfalls ein schlichtes keltisches Steinkreuz.
Er nimmt seine Mütze ab. Dann streckt er die Hand aus und berührt das Kreuz, und ich habe zunächst den Eindruck, dass er Halt sucht. Aber dann sehe ich, dass er den kalten Stein streichelt, mit einer Zärtlichkeit, mit der man sonst das zarte Gesicht eines Neugeborenen liebkost. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich den Mann in diesem intimen Moment beobachte, und dennoch schaffe ich es nicht, mich abzuwenden. Er verharrt ein paar Minuten in dieser Stellung, dann beugt er sich nach vorn und drückt einen Kuss auf das Kreuz, ehe er sich langsam auf den Rückweg macht. Nach ein paar Schritten dreht er sich noch einmal um, wirft einen letzten Blick zurück, setzt seine Mütze wieder auf und humpelt zu dem Tor. Kurz darauf höre ich, wie die Wagentür zufällt, der Motor angeht, und dann sehe ich, wie die Scheinwerfer sich langsam an meinem Fenster vorbei in die entgegengesetzte Richtung bewegen.
Es gibt hier im Ort einen Laden, in dem man Milch in Flaschen kaufen kann. Ich hatte gedacht, diese Verpackungsform für Milch sei ein Relikt der Vergangenheit; und als ich die Milch aus dem Kühlregal nehme und dabei leicht an die Flasche daneben stoße, beschleicht mich bei dem leisen Klirren ein seltsames Gefühl. Es gibt kein Geräusch, das ich stärker mit meiner Kindheit verbinde als das Klirren von Flaschen, Lilys Flaschen, natürlich. Und da war garantiert keine Milch drin.
Die Milchflasche, die ich kaufen will, liegt kalt in meiner Hand, kühlt meine Finger. Allein ihr Anblick reicht aus, dass ich wie erstarrt stehen bleibe. Ich schüttle den Kopf, versuche verzweifelt, die Erinnerung zurückzudrängen, Lily aus meinen Gedanken zu verbannen.
Sie war schlau und gerissen. Alle Alkoholiker sind so. Sie können nicht anders. In den Jahren, nachdem mein Vater uns verlassen hatte, war sie oft betrunken, dennoch habe ich selten mit eigenen Augen gesehen, wie sie getrunken hat. Sie trank, als ich in der Schule war. Als ich schon im Bett lag. Immer, wenn ich nicht zu Hause war. Ich denke, sie trank im Badezimmer, weil sie dort eine Flasche versteckt hatte, in der kleinen Box, in der sie Chlorbleiche und Allzweckreiniger und Wischlappen aufbewahrte. Mit der Zeit merkte ich, dass sie überall im Haus Flaschen versteckt hatte, in allen möglichen Nischen und Winkeln.
Manchmal hörte ich Lily weinen. Ihr Bett stand an der anderen Seite der Wand, die unsere beiden Zimmer voneinander trennte. In manchen Nächten lag ich da, schaute diese Wand an und war mir bewusst, dass sie im selben Moment, jenseits dieser Trennwand, wahrscheinlich das Gleiche machte. Es war, als würden wir gemeinsam in einem Doppelbett liegen, mit einer Barriere dazwischen. Ihr Weinen war leise, schrecklich anzuhören. Manchmal vergrub ich mein Gesicht in meinem Kopfkissen und drehte mich mit dem Rücken zur Wand, damit ich so tun konnte, als gäbe es dieses andere Zimmer nicht. Manchmal summte ich vor mich hin, konzentrierte mich auf das dumpfe Summgeräusch in meinem Kopf, damit ich das Wimmern ihres Schmerzes ausblenden konnte.
Ich ging nie zu ihr, um sie zu trösten. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Sie weinte wegen Dingen, von denen ich in meinem Alter keine Ahnung hatte, auch wenn ich sie mir mittlerweile gut vorstellen kann. Doch manchmal versuchte ich, ihr zu helfen, mit kleinen Gesten. Eines Tages, ich war damals etwa zwölf, kam ich von der Schule heim und fand sie schlafend auf dem Sofa. Im Zimmer war es kalt. Das Haus sah noch genauso aus, wie ich es am Morgen verlassen hatte, das schmutzige Geschirr von zwei Tagen stand in der Küche herum, das Signallämpchen der Waschmaschine blinkte. Ich breitete eine Decke über Lily und räumte leise die Küche auf, ehe ich die Wäsche aus der Maschine nahm und zum Trocknen aufhing und dann nach oben ging, um den Korb mit der Bügelwäsche zu holen. Ich hatte noch nie zuvor gebügelt. Aber ich dachte,
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