Die verborgenen Bande des Herzens
Monate.«
»Weswegen?«
»Verschiedener Dinge.«
»Welche Dinge?«
Hammond zögert. »Ich bin an die ärztliche Schweigepflicht gebunden.«
»Ihre Patientin ist spurlos verschwunden, Dr. Hammond.«
»Manche Menschen verschwinden aus freien Stücken«, antwortet er. »Es ist ihr gutes Recht. Und manchmal kehren sie erst wieder nach Hause zurück, wenn ihnen der Zeitpunkt richtig erscheint.«
»Ach ja? Nun, wollen wir doch sehen, ob wir diesen Prozess nicht ein wenig beschleunigen können, nicht wahr?«
Er gibt mir keine Antwort, aber ich sehe, wie sich seine Gesichtsmuskeln anspannen, seine Wangen leicht zu beben anfangen, wie Schmetterlingsflügel. Ganz klar, er mag meinen Ton nicht, doch ich denke, dass er nun endlich zu der Erkenntnis gekommen ist, dass ich eine effiziente Polizistin bin. Dann plötzlich, unerwartet, lächelt er.
»Und wie, glauben Sie, kann ich Ihnen eine Hilfe sein?«
Seine Stimme ist sehr ruhig, sanft. Offenbar führt er neben seiner Psychotherapie auch Hypnosebehandlungen durch. Ich würde mich nie von irgend so einem alten Kerl einlullen lassen, womöglich noch in einem Zimmer, das abgesperrt ist. Die Hälfte von denen sind doch Perverse.
»Ich muss über Carol Anns seelische Verfassung Bescheid wissen.«
Er schaut mich an mit völlig ausdrucksloser Miene. »Die Kriminalpolizei ist bei dieser Untersuchung nicht eingeschaltet worden?«, sagt er in fragendem Ton. »Das hier ist demnach keine offizielle Befragung – nur eine Bitte Ihrerseits?«
Hm. Nicht dumm, der Bursche.
»Dr. Hammond«, fahre ich fort, »ich verstehe, dass Ihnen die Privatsphäre Ihrer Patienten wichtig ist, aber es ist möglich, dass sich Carol Ann in Gefahr befindet. Und das ist noch wichtiger. Falls dies der Fall ist, muss ich schnell handeln. Deshalb bitte ich Sie nun nachzudenken, ob Carol Ann Ihnen irgendetwas erzählt hat, woraus Sie schließen, dass sie im Begriff war, ihr Zuhause, ihre Familie zu verlassen. Falls dem so ist, kann ich hoffen, nach einer Lebenden zu fahnden. Falls nicht, dann …« Ich schaue ihn herausfordernd an. »Verstehen Sie nun meine Lage?«
»Das Ganze ist wirklich nicht so simpel, wie Sie es darstellen.«
Sally drückt sich immer noch im Hintergrund herum, eine Akte fest an die Brust geklemmt. »Ich will nur schnell …«, sagt sie.
Beide tauschen einen kurzen Blick, wortlos fließt die Kommunikation zwischen ihnen.
»Nun, hat sie oder hat sie nicht?«
»Was meinen Sie damit?«
»Hat sie etwas gesagt, das bei Ihnen den Eindruck erweckt hat, sie sei im Begriff, alles stehen und liegen zu lassen?«
»Nicht wirklich, nein. Aber auch wenn sie diese Absicht nicht klar ausgedrückt hat, bedeutet das nicht, dass sie den Wunsch dazu nicht verspürt hat.«
»Dr. Hammond, würden Sie sagen, dass Carol Ann der Typ ist, der dazu fähig ist, einfach alles hinter sich zu lassen?«
»Carol Ann kämpfte mit einem … nun ja, Pflichtgefühl, das ihr gebot, ihre Familie nicht im Stich zu lassen. Aber natürlich können dadurch wiederum neue Belastungen entstehen.«
»Ein Pflichtgefühl?«
Seine Mundwinkel heben sich in der Andeutung eines Lächelns. »Eine altmodische Vorstellung, ich weiß.« Der Sarkasmus in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
Nun gut, so kommen wir nicht weiter. Ich muss die Sache anders anpacken.
»Lassen wir Carol Ann mal kurz aus dem Spiel. Jemand, der aus freien Stücken von zu Hause verschwindet … welche Beweggründe hat so ein Mensch?«
»Nun, es ist offensichtlich, dass Menschen, die ihr altes Leben einfach hinter sich lassen, nicht in gewohnten Bahnen denken. Viele leiden an einer krankhaften Depression.«
»Hatte Carol Ann Depressionen?«
Er fährt in seiner Rede fort, als hätte er mich nicht gehört.
»Manche haben Alkoholprobleme.«
»Hatte Ca…«
»Andere wiederum muss man im Zusammenhang mit einer beginnenden Demenzerkrankung sehen.«
»Dafür war Carol Ann zu jung.«
»Sie würde nicht in die Hochrisikogruppe für eine Demenz erkrankung fallen«, stimmt Dr. Hammond mir zu. Seine ruhige Art macht mich irgendwie ganz kribbelig. Es ist, als würde man jemanden mit einer allzu perfekten Frisur vor sich haben und plötzlich den Drang verspüren, die Hand auszustrecken und die Frisur zu zerzausen. Genau das ist Dr. Hammond: eine allzu perfekte Frisur. Seine Ellbogen ruhen auf der Armlehne seines Stuhls, die Fingerspitzen seiner Hände formen ein Dreieck. Seine Schreibtischplatte ist nicht nur aufgeräumt, sondern fast leer. Ein Telefon. Ein
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