Die verbotene Pforte
er die Zähne fletschen. Alles in ihm war bereit, zu laufen und zu beißen. Und in diesem einen Moment war auch die menschliche Angst vor dem Hai verschwunden. Was blieb, war nur noch der Instinkt, sich zu wehren und zu entkommen. Aber wie?
Der Haimensch lachte heiser und ließ den Bootsrand los. Sein Körper fiel so schwer ins Wasser zurück, dass Tobbs von Kopf bis Fuß durchnässt wurde. Augenblicklich kam er wieder zu sich. Das Boot war ein Stück hinausgetrieben worden, nur das straff gespannte Seil hielt es am Korallenriff.
»So verstehen wir uns«, sagte der Haigott. Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Zischen. »Warum lügt dein Tatau?«
Tobbs traute seinen Ohren nicht. Es war nicht die Sprache, die er sonst sprach, aber er verstand den Hai tatsächlich!
»Es lügt nicht«, flüsterte er, die Worte spürte er als Grollen in seiner Kehle.
»Du trägst das Zeichen eines Menschen«, gab der Hai zurück. »Aber du bist keiner. Du bist den Haien ähnlich und doch wieder nicht. Also, was willst du hier?«
»Etwas holen, was in unser Land gehört.«
»Liegt es in der Lagune?«
Tobbs nickte. »Eine Truhe. Sie ist sehr wichtig.«
Das Hailachen brachte ihn wieder aus der Fassung.
»Die Truhe gehört mir«, sagte der Haimensch drohend. »Und niemand bekommt sie, schon gar nicht so eine Kreatur wie du.«
»Sie lehnen ab«, fasste Maui die stundenlange Verhandlung in einem Satz zusammen. »Aber das ist ganz normal. Es wäre das erste Mal, dass die Götter einem Unterhändler ohne Weiteres nachgeben.«
Das Feuer war längst heruntergebrannt und die strahlende Nacht über ihnen erinnerte Tobbs an einen perlenbestickten Baldachin. Der Mond hing im Horizont wie in einer Hängematte aus schimmernden Reflexionen.
»Und wie gehen wir jetzt weiter vor?«, fragte Tobbs, während er sich bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Abend umsah. Es war unheimlich, mitten auf dem Atoll der Haigötter zu übernachten! Ob auch Götter schliefen? Vielleicht lagen sie in der Lagune. Das Bild des Haimenschen, der die Truhe umklammert hielt wie ein hölzernes Kissen, drängte sich immer wieder vor Tobbs’ Augen.
»Weitermachen«, sagte Maui schlicht. »Die richtige Verhandlung beginnt jetzt. In drei bis vier Tagen sieht es schon ganz anders aus.«
»Der Haimensch mit den Wirbeltataus ist da anderer Meinung.«
»Mako der Wächter? Nun, er ist jung und er hasst alles Fremde. Er ist der ehrgeizigste und zerstörerischste der Götter, ja.« Maui runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir hatten Glück, dass die Alten auf dem Atoll waren, als wir ankamen. Wäre nur Mako hier gewesen, müssten wir mit zehn bis fünfzehn Tagen Verhandlungszeit rechnen. Mit weitaus ungewisserem Ausgang.«
Im Schein des Feuers leuchteten Mauis Zähne weiß auf. Doch Tobbs erwiderte das Lächeln nicht. Nachdenklich starrte er in die kleine Glut. Im Wasser konnte er die weißen Haie hören, die ruhelos das Atoll umschwammen.
»Was bedeutet Makos Tatau?«, fragte er Maui nach einer Weile.
»Dass er tiefer tauchen kann als alle anderen Götter. Seine Hilfe werden wir brauchen, denn er ist der Einzige, der ohne Mühe zum tiefsten Punkt des Atolls tauchen kann. Und ein Gott hilft nur dort, wo es ihm keine Mühe bereitet.«
Tobbs’ Mut sank. Wenn sie auf Makos Hilfe angewiesen waren, konnten sie einpacken. Die Erinnerung an die nachmittägliche Begegnung mit dem jungen Gott ließ ihn immer noch erschauern. Was war dort jenseits des Riffs mit ihm geschehen? Wie war es möglich, dass er eine fremde Sprache verstand und sprach? Und dann dieser kleine tobbslose Moment, in dem er die Beherrschung verloren und sich in irgendetwas anderes verwandelt hatte – aber in was?
RAUCHZEICHEN
Eine Ahnung weckte ihn. Für eine verwirrende Sekunde glaubte er, sich wieder auf dem Heuboden der Taverne zu befinden, aber der Sand, der zwischen seinen Fingern knirschte, holte Tobbs in die Wirklichkeit zurück. Erschrocken fuhr er hoch.
Stille.
Selbst das Meer war gespenstisch ruhig. Nur wenn er sich Mühe gab, viel Mühe, hörte Tobbs die gleichmäßigen Atemzüge von Maui und den Musikern. Aber dennoch war da etwas! Vielleicht hatte er ein Geräusch gehört? Nein, er hatte nur seltsam geträumt. In seinem Traum war er durch ein rot glühendes Land gelaufen. Und unter seinen Händen raschelte Laub, das vertraut und gut roch. Es machte ihm nicht einmal etwas aus, dass er auf allen vieren lief, auch wenn Ästchen und spitze Steine in seine Handflächen stachen. Das, was
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