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Die verbotene Pforte

Die verbotene Pforte

Titel: Die verbotene Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Luft wurde aus Tobbs Lunge gesogen, seine Schultern durchzuckte ein gewaltiger Schmerz. Etwas langsamer fiel er weiter. Die Herrschaft über seine Arme und Finger hatte er offenbar verloren – sie klammerten sich ganz ohne sein Zutun an einen dicken, glatten Ast, der offenbar mitten aus der Luft gekommen war. Fenster mit bunten Vorhängen huschten an ihm vorbei. Mit dem Ast in den Armen sauste er zwischen zwei Häusern in die Tiefe. Ein weiteres Geschoss verfehlte ihn und zerstörte ein Fensterbrett. Tobbs prallte gegen eine Hauswand, trudelte, bis er sich mit dem Fuß in einem Vorhang verhedderte. Stoff schlug ihm gegen die Wange und wickelte sich um seinen Kopf. Flatternd und trudelnd fiel er blind weiter – knallte gegen harte Dinge, hörte Stoffe reißen. Als der Wind endlich den Vorhang vor seinen Augen zur Seite schob, erkannte er direkt unter sich ein mit Spiegelscherben übersätes gelbes … Sonnendach?
    Tobbs krachte hindurch wie ein Stein durch ein Mehlsieb – und versank in einem Haufen Blütenblätter. Fest an den Ast geklammert blieb er liegen.
    »Vom Dach gefallen!«, sagte eine Männerstimme. Die Aussprache war seltsam verwaschen, es klang beinahe wie »Vomtachefallen«.
    »Vom Dach!«, bestätigte eine Frau.
    »Warum ist er nicht tot?«
    »Er umarmt einen Schweb-Eichenast«, sagte der Mann. »Der hat seinen Fall etwas abgebremst. Und dann ist er direkt auf den Wagen mit den Blüten für das Opferfest gefallen. Einmal alle zehn Jahre fährt dieser Wagen durch die Wandelgasse – und er fällt direkt rein.«
    »Unglaubliches Glück. Unglaublich! Kein Mensch hätte den Sturz überlebt.«
    »Und wenn er kein Mensch ist?«
    Tobbs versuchte, tief einzuatmen. Es stach zwar, aber allmählich war er geneigt zu glauben, die Sache lebend überstanden zu haben. Vorsichtig blinzelte er.
    Über ihm wehte das zerfetzte Sonnendach im Wind. Und über den Wagenrand starrten ihn aus übergroßen, spiegelglatten Augen Insekten an. Ihre runden Köpfe glichen glänzenden Lackkappen und wie bei Käfern bedeckten Panzerplatten die Schultern. Tobbs stöhnte und richtete sich auf. Viel Kraft brauchte er dazu nicht, der Schweb-Eichenast, den er tatsächlich immer noch umklammert hielt, zog ihn hoch.
    Sofort kam Bewegung in die Käfer. »Ein vom Himmel Gefallener!«, flüsterte die Frau. »Wie lange ist es her, seit die Götter uns einen geschickt haben?«
    »Gebt ihm eine Kappe!«, befahl der Mann. »Und dann bringt ihn in den Tempel!«
    Bevor Tobbs etwas erwidern konnte, stülpte ihm jemand eine holzharte Halbkugel über den Kopf. Dann schob man ihm noch ein seltsames Gestell über die Augen – zwei mit einem Bügel verbundene Insektenaugen an Holzstielen, die über seine Ohren und die Nase gelegt wurden. Tobbs staunte – durch die Insektenaugen sah er alles in einem hübschen Blauton!
    Und dann sah er gar nichts mehr.

DIE STADT DER SPIEGEL
    Es roch nach den rosafarbenen Blüten, die zu Räucherwerk zerfielen, ein süßer, leichter Duft, der sich mit dem starken Geruch von schwelenden Dochten und rußigen Rauchschwaden mischte. Trappeln und leises Fiepen erklang, Platschen und auch das zarte Läuten von Zimbelglöckchen. Die beruhigenden Klänge folgten keinem Rhythmus, sondern waren so zufällig, als würde der Wind mit den Glöckchen spielen. Das Schönste aber war die Stille, die die Pausen zwischen den Geräuschen füllte. Nichts bewegte sich. Der Boden unter Tobbs war fest und weich zugleich – möglicherweise lag er auf einer Matratze oder dicken Decke. Seine Finger ertasteten Stoff und Stickereien.
    Seltsamerweise tat ihm nichts weh – nur in seinem Kopf befand sich ein diffuser Klumpen, der an pulsierende Watte erinnerte. Behutsam öffnete Tobbs die Augen und blickte sich um.
    Er lag in einem Tempelraum. Rosafarbene, fleischige Blüten bedeckten den Boden vor einem lackierten Schrein. Unzählige Spiegel brachen das Licht von Kerzen und ließen die Farben im Raum flirren. Die Figur, die auf dem rot lackierten Holz stand, stellte eindeutig Kali dar. Sogar der tote Mann am Ohr fehlte nicht. Die Göttin schien Tobbs grimmig anzusehen. Schuldbewusst schoss er hoch. Wie lange mochte er geschlafen haben? Er musste sofort hier raus – und zurück zur Taverne. Gehetzt blickte er sich um. Doch der Raum hatte kein Fenster. Nicht einmal eine Tür entdeckte Tobbs. Das einzige Element, das die strenge Symmetrie des Raumes störte, war der Schweb-Eichenast. Mit einer dünnen Eisenkette war er in der rechten Ecke

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