Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
kostenlos, und es gebe obendrein hundert Pfund als Bezahlung für den Botendienst. Jens sagte sofort zu und sie machten sich auf den Weg zum TNT -Büro. Dort hielt man den deutschen Studenten für einen geeigneten Ersatz, nur benötigten sie jetzt gerade jemanden, der für sie nach Saudi-Arabien fliege. Am Ende ging es für Jens nach Bahrain und erst ein paar Tage später weiter nach London.
Er beschloss, direkt weiter Richtung Deutschland zu reisen, denn er hatte sich überlegt, dass er die teure Stadt von nun an ja jederzeit später einmal anschauen könne. Er fragte sich in London durch bis zum Beginn einer Ausfallstraße und stellte sich als Tramper an den Straßenrand. Ein Lkw-Fahrer nahm ihn mit, weit aus der Stadt hinaus. Der Mann fragte über Funk, ob einer seiner Kollegen nach Dover fahre und dem Studenten helfen könne. An einer Raststätte außerhalb Londons stieg Jens um. Der nächste Lkw-Fahrer, ein Engländer, entpuppte sich als Bergsteiger. Was? Im Kaukasus und im Altai warst du? In der Mongolei und in China? Und kommst aus dem Osten? Da der Fernfahrer noch viel Zeit bis zur Abfahrt der Fähre hatte, ließ er sich davon erzählen. Er verließ die Autobahn und zeigte Jens auf den Landstraßen Südenglands malerische kleine Ortschaften.
Nach der Überquerung des Ärmelkanals endete die Fahrt mit einer Stadtbesichtigung in Antwerpen. Dann nahm ihn ein belgischer Lkw weiter bis Bonn mit. Dort klingelte er auf gut Glück bei der Adresse einer Freundin von Anke – sie war auch eine Studentin, die er bei den Ost-West-Treffen in der Ost-Berliner Studentengemeinde kennengelernt hatte.
Zufällig stand gerade ein solches Treffen in Ost-Berlin an, und Jens organisierte, dass einer der Mitreisenden bei Marie und seinen Eltern in Leipzig vorbeiging, um ihnen von Jens’ geglückter Ankunft im Westen zu berichten.
Jens selbst machte sich zum Flughafen Hannover auf. Aus Furcht, verhaftet zu werden, wagte er es nicht – wie auch alle anderen Geflüchteten –, die Transitstrecke durch die DDR nach West-Berlin mit dem Auto oder Zug zu benutzen.
An einem Wintertag im Dezember 1987 landete er mit dem Flugzeug in Berlin, fast ein halbes Jahr nach dem spätabendlichen Aufbruch in Prenzlauer Berg. Er ging zur Berliner Mauer und schaute von einer der provisorisch aus Holz errichteten Plattformen hinüber in den Ostteil der Stadt, wo er bis vor kurzem noch mit Marie zusammengewohnt hatte. Es roch zum ersten Mal seit langem wieder vertraut – nach schwefliger Braunkohle. Der Wasserturm, die Rykestraße waren nah, doch für ihn nicht zu sehen.
MARIE HATTE gleich nach ihrer Rückkehr ihr Studium an der Kunsthochschule ohne Probleme fortsetzen können. Sie erzählte nicht, wo sie gewesen war. Nur ihrer Freundin Conny und den Eltern berichtete sie ein wenig, vom langen Abschied, von ihrer Trauer, von dem anderen Leben, das sie kennengelernt hatte und das nun für immer in unerreichbarer Ferne schien.
Sie wusste nicht, was ihr nach der verbotenen Reise in Ost-Berlin passieren würde. Die Ungewissheit verwandelte sich in Angst, wenn sie nachts alleine in der Rykestraße aufwachte, wenn die Eingangstür unten im Haus klappte, Schritte zu hören waren, aber niemand irgendwo klingelte oder seine Wohnungstür aufschloss.
Tatsächlich war die Stasi aktiv geblieben, da die für Jens zuständigen Offiziere nicht genau wussten, wo er sich aufhielt, ob er womöglich geflohen war. Obwohl die Stasi bei der Urania Druck gemacht hatte, damit er dort keine Diavorträge mehr halten konnte, gab es einen längst ausgemachten Termin über Die Fauna und Flora des Donaudeltas. Um zu sehen, ob Jens aus der Mongolischen Volksrepublik zurückgekehrt ist , ergriff ein Stasi-Offizier laut Protokoll die Maßnahme einer Beschaffung einer Eintrittskarte . Sein Beobachtungsergebnis: Ein Mitarbeiter des Urania-Vortragszentrums teilte mit, dass die Veranstaltung wegen Erkrankung des Referenten ausfällt. Eingehender befragt, äußerte der Mitarbeiter, dass die Freundin angerufen und mitgeteilt habe, dass er sich in der Sowjetunion im Krankenhaus befindet und nicht transportfähig ist.
Am Tag vor Weihnachten 1987 vereinbarten die Berliner und die Leipziger Stasi-Bezirksverwaltung, dem Verbleib von Jens weiter nachzugehen. Denn die Überprüfung, ob er tatsächlich irgendwo in Russland im Krankenhaus sei, hatte sich als schwierig erwiesen. Darum wollte man, so die nächste Maßnahme , seine Eltern im neuen Jahr nach dem Aufenthaltsort ihres Sohnes
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