Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
sich in ihrer Rede direkt an Petrus, meint aber indirekt wohl auch Andreas. Maria spricht Petrus mit „Bruder“ an und fragt ihn, ob er glaube, dass sie lüge. Bevor eine Antwort kommt, schaltet sich der Jünger Levi ein, der klar auf Marias Seite steht. Er attackiert Petrus, indem er ihn als Mann des Zornes bezeichnet und mit Widersachern und Feinden Jesu und der Jünger gleichsetzt. In einer griechischen Version des „Evangeliums nach Maria“ spricht Levi am Ende von Petrus sogar als dem Widersacher Marias (im Singular), was eigentlich eine Bezeichnung für Satan ist; keine sehr schmeichelhafte Bezeichnung für den Mann, der in der Großkirche als Fels, auf dem Jesus seine Kirche gründete, verehrt wird. Die Stelle im Matthäusevangelium (Mt 16,23), wo Jesus Petrus als Satan anredet, weil dieser ihn aufgrund der Leidensankündigung bittet, Gott möge die Passion verhindern, steht in einem anderen Kontext. Petrus als Gegenspieler Marias ist aber nicht nur ein Phänomen des „Evangeliums nach Maria“, sondern kommt auch in anderen gnostischen Texten wie z. B. der „Pistis Sophia“ vor. Anschließend fordert Levi die Jünger entsprechend der Anweisung Jesu auf, das Evangelium zu verkünden, was auch getan wird
.
Die Tatsache, dass Maria erst im zweiten Teil des gleichnamigen Evangeliums eine Rolle spielt – im ersten belehrt der Erlöser selbst die Jünger –, hat einige Forscher zu der These veranlasst, dass es sich ursprünglich um zwei unabhängige Texte gehandelt haben muss, die später zusammengefügt wurden. Diese erscheint aber schon allein durch den Textbestand mehr als fragwürdig, da vom ersten Teil nur eine sehr kurze Passage erhalten ist. Wir wissen also nicht, ob Maria nicht dort schon vorkommt. Auch das Faktum, dass es im zweiten Teil (9,12f.) „Da stand Maria auf“ heißt, verweist eher darauf, dass sie von Beginn an bei den Jüngern weilt. Ebenso wenig hängt das veränderte Verhalten des Petrus Maria gegenüber, der sie erst auffordert, etwas zu sagen und dann das Gesagte in Zweifel zieht, damit zusammen, dass es sich um zwei verschiedene Texte handelt. Als er sie zum Reden auffordert, tut er dies ausschließlich im Blick auf Maria als Vertreterin der Frauen. Er sieht sie nicht als Sprecherin aller Jünger und damit als Konkurrenz zu sich selbst. Sein Verhalten ist wohl von einem gewissen Unwohlsein motiviert, weil er befürchtet, Maria möchte ihm den Rang ablaufen. Wir können also davon ausgehen, dass es sich bei diesem Evangelium um einen einheitlich konzipiertenText handelt und nicht um zwei verschiedene, ursprünglich eigenständige Traditionen
.
In der Forschungsgeschichte des Evangeliums wurde zudem die Vermutung geäußert, dass es sich ursprünglich um einen nichtchristlichen Text gehandelt habe, der nachträglich christianisiert wurde, da die Visionsrede Marias keine genuin christliche Lehre aufweise, sondern nur der Rest des Textes christliche Züge trage. Wenn man die Geschichte des gnostischen Christentums betrachtet, so scheint es allerdings nahe liegender davon auszugehen, dass typisch gnostisches Gedankengut mit christlichem verbunden wurde. Man verstand das Christusgeschehen eben nicht wie die Großkirche, sondern als einen gnostischen Erlösungsprozess
.
Das „Evangelium nach Maria“ ist Teil des koptischen Codex „Berolinensis Gnosticus 8502“ (BG). Wie bereits in der Einleitung dieses Buches angesprochen, gehören zum Codex ferner das „Apokryphon des Johannes“, die „Sophia Jesu Christi“ und ein Stück aus den Petrusakten. Erst nach den sensationellen Funden der Texte von Nag Hammadi wurde er 1955 veröffentlicht, wohl auch deshalb, weil dort Fassungen des „Apokryphon des Johannes“ und der „Sophia Jesu Christi“ gefunden worden waren. Da das „Evangelium nach Maria“ ebenso stark gnostische Züge trägt, wie die beiden gerade genannten Texte, wird es in der Regel im Kontext der Nag Hammadi Schriften behandelt, auch wenn es selbst nicht unter den Nag Hammadi Schriften aufzufinden war
.
Neben der koptischen Version des „Evangeliums nach Maria“ existieren auch zwei griechische Fragmente aus dem 3. Jahrhundert. n. Chr., die der koptischen Version gegenüber z. T. einige bedeutende Änderungen beinhalten. Leider füllen der Papyrus Rylands 463 (PRyl 463) und der Papyrus Oxyrhynchos 3525 keine Lücken der koptischen Handschrift, sondern bieten nur gewisse Variationen zum schon erhaltenen Text. Man kann daher davon ausgehen, dass neben dem
Weitere Kostenlose Bücher