Die Verfluchten
mir. Du bist noch jung, Andrej, noch fast ein Kind
nach unseren Begriffen, aber irgendwann wirst du verstehen, was ich
meine.«
»Ein Kind?«, wiederholte Andrej verächtlich. »Wenn das wirklich
so ist, dann wünsche ich mir nur, niemals erwachsen zu werden.«
»Was übrigens alle Kinder sagen«, sagte Meruhe amüsiert, »auch
die von ganz normalen Sterblichen.«
Andrej ging nicht darauf ein. »Du hast zu ihnen gehört?«, knüpfte
er an ihr unterbrochenes Gespräch an.
»Für lange Zeit«, gestand Meruhe. »Aber irgendwann… habe ich
begriffen, wie falsch es war. Warum auch immer die Götter uns dieses Geschenk gemacht haben, es ist eine große Verantwortung damit
verbunden. Vielleicht ist es in Wahrheit kein Geschenk, sondern ein
Fluch. Ich habe das eingesehen und bin gegangen, und bis vor kurzem ist es mir gelungen, mich vor ihnen zu verbergen.« Sie zuckte
unglücklich mit den Achseln. »Vielleicht habe ich mir das auch nur
eingeredet, und sie haben die ganze Zeit über gewusst, wo ich bin,
und mich gewähren lassen.«
»Und warum dann jetzt nicht mehr? Du hast gesagt, dass sie
manchmal auf dem Sklavenmarkt von Mardina auftauchen. Wenn du
das wusstest, warum bist du dann dorthin gegangen?«
»Ich wollte Faruk«, erklärte Meruhe. »Vielleicht war das naiv. Ich
hätte mir denken können, dass sie dort auf mich warten, aber ich war
blind. Ich wollte Ali Jhin und Faruk, denn sie sind die Grausamsten
von allen - und um ein Haar hätte es ja auch geklappt.«
»Wenn nicht zwei dumme Kinder aufgetaucht und im letzten Moment alles verdorben hätten«, sagte Andrej. »Deshalb hast du dich
von Ali Jhin einfangen lassen, und du warst es auch, die dafür gesorgt hat, dass Faruk selbst dich kauft.«
Meruhe sah ihn nur an. Sie lächelte zwar, aber sie tat ihm nicht den
Gefallen, ihm direkt zu widersprechen. »Es tut mir Leid«, sagte Andrej. »Das muss es nicht«, antwortete Meruhe lächelnd. »Ich weiß ja,
warum du es getan hast, und du wusstest es nicht besser. Außerdem… wenn ich in all diesen vielen Jahren eines gelernt habe, dann,
dass es so etwas wie Zufall nicht gibt. Alles hat einen Sinn, nur können wir ihn oft nicht erkennen.« Ihre Hand kroch an seinem Arm
hinauf, tastete über seine Brust und blieb flach über seinem Herzen
liegen. Nach einem Moment konnte er regelrecht spüren, wie etwas
von ihrer Kraft in ihn strömte.
»Besser?«, fragte sie.
Andrej nickte. »Werde ich das eines Tages auch können?«, fragte er
schaudernd. Es war ein berauschendes, unvorstellbar schönes Gefühl,
das ihm aber zugleich auch Angst machte.
»Das und noch viel mehr«, sagte Meruhe. »Vielleicht.«
Und dann stieß sie ihn ohne Vorwarnung mit voller Wucht auf sein
Lager zurück und schwang sich mit einer fließenden Bewegung über
ihn. »Und jetzt halt den Mund, Andrej«, sagte sie, während sich ihre
Lippen auf die seinen senkten.
Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich sehr seltsam.
Wärme durchströmte ihn, und er spürte Meruhes Geschmack auf der
Zunge. Einerseits fühlte er sich erfrischt und zufrieden wie schon seit
langer, viel zu langer Zeit nicht mehr, zugleich aber ausgelaugt und
erschöpft und so schwach wie ein neugeborenes Baby. Die Erinnerungen an die vergangene Nacht schwirrten in seinem Kopf wirr
durcheinander. Sie hatten sich auf eine Art und mit einer Intensität
geliebt, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte, und Meruhe hatte ihm
etwas gegeben, was weit über die rein körperliche Seite dieser Vereinigung hinausgegangen war. Zugleich hatte er aber auch das Gefühl,
dass es kein Geschenk gewesen war, sondern sie auch etwas genommen hatte. Er wusste jedoch nicht, was.
Jemand berührte ihn an der Schulter, und Andrej registrierte erst im
Nachhinein, dass es nicht das erste Mal war und dass ihn wohl auch
diese Berührung geweckt hatte. Schlaftrunken auf eine Art, die er das
letzte Mal vor mehr als einem Jahrhundert verspürt und deshalb
längst vergessen hatte, tastete er mit der linken Hand neben sich, wo
er beim Einschlafen die Berührung von Meruhes samtweicher Haut
verspürt hatte. Jetzt war dort nichts, und für einen kurzen Moment
empfand er eine tiefe Enttäuschung. Aber das Lager war noch warm.
Sie konnte nicht allzu lange fort sein.
Zum dritten Mal wurde an seiner Schulter gerüttelt und diesmal so
heftig, dass sein Kopf hin und her flog und seine Zähne schmerzhaft
aufeinander schlugen. Verärgert, aber immer noch nicht richtig wach,
öffnete er die
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