Die Verfluchten
musste allerdings längst vorüber sein. Nur noch
wenige Stunden, und es würde hell werden.
»Ist dein Freund immer so ungestüm?«, fragte Meruhe.
Andrej konnte gerade noch ein erschrockenes Zusammenzucken
unterdrücken, während er sich zu ihr umdrehte. Erneut hatte sie sich
ihm so leise genähert, dass er es weder gespürt noch gehört hatte.
Allmählich wurde ihm diese Frau unheimlich.
»Nein«, antwortete er. »Ganz im Gegenteil. Er hat noch eine Rechnung mit diesem Mann offen. Eine ziemlich alte Rechnung.«
»Mit Ali Jhin?«, fragte Meruhe zweifelnd.
»Nicht mit ihm, aber mit Männern wie ihm«, antwortete Andrej. Er
glaubte ihr anzusehen, dass sie mit dieser Antwort nicht besonders
viel anfangen konnte, und fügte hinzu: »Als er ein Kind war, ist ihm
etwas widerfahren, was du kennen dürftest. Sklavenhändler haben
sein Dorf überfallen und seine Familie umgebracht.«
»Und die, die sie nicht erschlagen haben, haben sie verschleppt und
als Sklaven verkauft«, führte Meruhe den Satz zu Ende. »Irgendwann
hat er sich befreit und macht seither Jagd auf Männer wie Ali Jhin.«
»Ich sehe, du hast schon von Abu Dun gehört?«, fragte Andrej,
doch Meruhe schüttelte nur so heftig den Kopf, dass ihr Haar flog.
»Nein«, sagte sie abfällig. »Aber die Wüste ist voll von den Gebeinen der Narren, wie dein Freund einer ist.«
»Findest du es so närrisch, den Tod seiner Freunde und Verwandten
rächen zu wollen?«, fragte Andrej.
»Wenn es hilft, den Tod anderer zu vermeiden, nein«, sagte Meruhe. »Aber das hier hilft gar nichts, und niemandem. Diese Männer
sind wie der Sand der Wüste. Du kannst sie nicht auslöschen. Du
magst einige von ihnen vernichten, aber es werden immer mehr da
sein, als du besiegen kannst.«
Es lag Andrej auf der Zunge, ihr zu erklären, dass Abu Dun durchaus imstande war, eine ganze Menge mehr als einige von ihnen zu
töten, aber im Blick dieser sonderbaren Frau lag etwas, das ihn dazu
veranlasste, diese Worte unausgesprochen zu lassen. Er wusste nicht
genau, ob es Bitterkeit war oder Resignation - oder jener seltsame
Fatalismus, der diesem kämpferischen Volk manchmal zu Eigen war
und den er trotz aller Anstrengungen und der langen Zeit, die er mit
Abu Dun verbracht hatte, niemals wirklich verstanden hatte. So, wie
Meruhe über die Sklavenhändler sprach, klang es, als rede sie über
eine Naturgewalt; etwas, was man fürchten und auch hassen konnte,
wogegen es aber einfach keine Gegenwehr gab. Diese Frau mit dem
nachtschwarzen Gesicht verwirrte ihn immer mehr.
»Wie seid ihr überhaupt aus dem Verlies herausgekommen?«, wollte Meruhe wissen.
Andrej hob die Schultern. »Abu Dun hat die Gitterstäbe aufgebogen.« Meruhe blickte ihn zweifelnd an, doch Andrej beließ es dabei
und ging wieder zu Abu Dun hinüber.
Ali Jhin blutete mittlerweile heftiger aus der Nase, und sein Auge
war vollkommen zugeschwollen. Der immer größer werdenden Enttäuschung auf Abu Duns Gesicht nach zu schließen hatte er aber offensichtlich bisher noch nicht allzu viel preisgegeben. Andrej fragte
sich, was sie tun sollten, wenn er sich weiter weigerte, Abu Duns
Fragen zu beantworten. Sie hatten schließlich nicht alle Zeit der
Welt. Irgendwann würde einer der Wächter aufwachen, oder einem
anderen würde auffallen, dass mit der Tür zum Sklavenquartier etwas
nicht stimmte, und spätestens dann musste hier die Hölle losbrechen.
Wenn es so weit war, dann wollte er nicht nur aus dieser Festung
heraus, sondern schon möglichst weit von ihr entfernt sein.
»Du willst von ihm wissen, wo du seine Auftraggeber findest?«,
fragte Meruhe, die ihnen lautlos gefolgt war. Abu Dun würdigte sie
nicht einmal einer Antwort, sondern nur eines eisigen Blickes, doch
sie fuhr trotzdem mit einem Kopfschütteln und in fast mitleidigem
Ton fort. »Selbst, wenn du ihn totschlägst, wird er es dir nicht sagen.
Er weiß es nicht.«
»Woher willst du das wissen?«, schnappte Abu Dun.
»Weil er es nicht weiß«, antwortete Meruhe. »Niemand weiß, wer
die wahren Herren der Sklavenjäger sind. Es heißt, sie würden über
ein Land weit am Oberlauf des Nils regieren, aber vielleicht ist auch
das nur eine Geschichte, die sie ausgestreut haben, um ihre wahre
Herkunft zu verschleiern.«
»Du willst uns erzählen, dass all diese Männer nicht wissen, wem
sie wirklich dienen?«, fragte Andrej zweifelnd.
»Gibt es einen besseren Weg, ein Geheimnis zu bewahren, als es
niemandem zu erzählen?«, gab Meruhe mit
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