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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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gelassen, wenn sein Auto versagte, wenn er arbeitslos wurde oder der Ehepartner ihn verlassen hatte.
    Der Vater war Verwaltungsbeamter im vorzeitigen Ruhestand, herzkrank, Infarktpatient. Er fiel mir zum ersten Mal im Aufzug auf, weil er ihn benutzte, obwohl er nur in den ersten Stock musste. Als ich dann sah, wie langsam er sich auf seine Wohnungstür zubewegte, war klar, dass er schwer krank sein musste. Schlechte Nachrichten, erfuhr ich später, seien möglichst von ihm fernzuhalten. Auch Mutter Schneider, eine Hausfrau, war in den Augen ihrer Kinder wenig belastbar. Wann immer man in ihrerGegenwart ein schwieriges Thema ansprach, schossen ihr die Tränen in die Augen. Ich habe es selbst gelegentlich erlebt, zum Beispiel als ich ihr erzählte, dass der Blumenladen an der Ecke schließen würde.
    Man durfte ihr offenbar nichts Negatives zumuten. Auch keine »Problemfilme« im Fernsehen. Am besten entspannte sie sich durch leichte Musik, Kreuzworträtsel und die Sammelromane von »Reader’s Digest«. Sie war eine liebe, herzliche Person. Niemand wollte ihr wehtun. Also wurde geschwiegen.
    Ich vermute, die Tragik der Schneiders war, dass die Mutter alle in Schach hielt. Sie war es, die bestimmte, welche Themen erlaubt waren und welche nicht. Ganz sicher war es nicht erlaubt, offen darüber zu sprechen, obwohl alle Kinder es wussten – dass die Tochter nur deshalb ständig knapp bei Kasse war, weil sie einem Liebhaber immer wieder mit beachtlichen Summen unter die Arme griff. Für die Eltern war »ihre Doris« jemand, der nun mal nicht mit Geld umgehen konnte, weshalb bereitwillig ihr Bankkonto ausgeglichen wurde.
    Außerdem riskierte niemand, laut zu sagen, was der Vater vielleicht ahnte, was aber die drei Geschwister definitiv wussten: dass der jüngste Sohn regelmäßig Drogen nahm. Einmal nachts, als ich ihn in der Eckkneipe traf, hatte mir Klaus auch die Begründung genannt: »Die Atmosphäre am Familientisch kann ich eigentlich nur breit ertragen.« Darum war er der Einzige, der sich den Ritualen gelegentlich entzog. Auf Drogensucht wäre man bei ihm nicht ohne Weiteres gekommen. Ein unauffälliger, bieder gekleideter Mann von Mitte dreißig, Versicherungsvertreter, verheiratet, ohne Kinder.
    Die anderen Geschwister waren ebenfalls kinderlos, allerdings schon wieder geschieden. Sie schienen grundsätzlich Pech zu haben in ihren Beziehungen. Die jeweiligen Ehepartner waren mit großer Herzlichkeit in die Familie aufgenommen worden. Zuwendung und Hilfsbereitschaft hatten sie auf geradezu überwältigende Weise erfahren. Aber als die Ehen in die Brüche gingen, wurden die Schwiegertochter und der Schwiegersohn regelrechtverstoßen. Sie allein waren schuld, dass die Beziehung nicht gehalten hatte. Auch fielen alle anderen Menschen in Ungnade, die in dieser Frage nicht hundertprozentig die Schneider-Linie vertraten.
    Wie Klaus, der Jüngste, mir bei unseren Kneipengesprächen enthüllte, lag bei den Schneiders das Versagen stets außerhalb ihrer Familie. Und so ergab sich reichlich Gesprächsstoff beim Essen, wenn man sich gemeinsam darüber aufregte, wie unverschämt sich der oder die verhalten habe, wie ungerecht der Chef des Sohnes sei, wie die Tochter von ihrer Abteilungsleiterin gedeckelt werde, wie überhaupt die Welt schlecht sei und warum eine rot-grüne Regierung Deutschland in die Katastrophe führe. Da entpuppten sich freundliche, rechtschaffene Menschen als feindselige, rachsüchtige Charaktere. Eine Familie wie eine Burg, in der aus allen Schießscharten geschossen wurde.
    Einmal hatte ich dem ältesten Sohn geholfen, seinen Wagen zur Werkstatt abzuschleppen. Man sagte uns dort, das Auto würde sofort repariert, wir könnten darauf warten. Peter machte auf mich einen schüchternen Eindruck. Als ich ihn nach seinem Beruf fragte, wich er aus und murmelte etwas von Import-Export. Von Klaus hatte ich erfahren, ihre Eltern hätten nie so recht verstanden, warum aus ihrer Kinderschar nicht wenigstens ein Akademiker hervorgegangen war. Immerhin hatten Mutter und Vater Abitur, aber die drei Kinder schafften gerade mal die mittlere Reife.
    »Mutter bekommt sofort feuchte Augen, wenn es um unsere Schulschwierigkeiten von früher geht«, hatte Klaus gesagt. Einmal erlebte er, dass seine Mutter von einem Bekannten gefragt wurde, ob sie eine Erklärung für das Schulversagen ihrer Kinder habe, und sie hatte geantwortet: »Sie waren wohl Spätzünder ...« Gleich alle drei? Wie war das möglich?
    Frau Schneider

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