Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
erhalten, wo doch Geschichte nie so ordentlich aufgehe. »Im Ausland hört man oft den Vorwurf, die Deutschen drehten sich zu sehr um sich selbst, wie selbstverloren, auch dann, wenn sie mit der Naziära abrechnen.«
Ich vermute auch hier: Eine Mehrheit der Deutschen würde dem zuletzt genannten Vorwurf aus dem Ausland zustimmen, eine Minderheit wiederum nicht.
Und nun der dritte Punkt. Die Deutschen als Opfer. Fakt ist, dass die Bevölkerung unsäglich unter dem Krieg gelitten hat. Das wird auch nicht bestritten. Unklar ist, wie die Deutschen heute damit umgehen sollen. »Ist es nicht ihr Recht, die Erinnerung an ganz spezifische Leiden des deutschen Volkes zu bewahren?«, fragte Grosser. Darum geht es. Das Problem ist nur: Fühlen wir uns als Volk tatsächlich dazu berechtigt, oder gehört es nicht vielmehr zum Erbe der Vergangenheit, dass wir uns nie mehr freimachen können von den ausländischen Bewertungen? Warten wir nicht unbewusst darauf, dass uns das Ausland endlich die Erlaubnis gibt, guten Gewissens unserer eigenen Opfer zu gedenken und den Traumatisierten Hilfe anzubieten?
»Natürlich ist es nur recht und billig, dass das schreckliche Leiden der deutschen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg endlich die ihm gebührende Berücksichtigung findet«, schrieb Antony Beevor. Aber eine Gegenposition zu ihm ist leicht zu finden. In der »Süddeutschen Zeitung« warnte Moshe Zimmermann vor »moralischer Aufrechnung und Relativierung«, nun, da »Bomben, Flucht und Vertreibung Elemente des öffentlichen Diskurses« seien. Bei den Menschen, die sich als Opfer zu erkennen gaben, hatte der Experte für deutsche Geschichte, der in Jerusalemlebt, »Vorwürfe und Zorn« entdeckt, weshalb er die Frage stellte: »Gegen wen soll sich der Unmut der Leser von Grass, Friedrich oder der vielen Gedenktafeln und auch der Besucher des geplanten Vertriebenenzentrums richten?«
Wie lässt sich eigentlich unterscheiden, welche ausländischen Bedenken wir ernst nehmen müssen und welche nicht? Ich glaube, eine Unterscheidung ist dann erst möglich, wenn wir selbst eine Haltung zu einer angemessenen Gedenkkultur gefunden haben und nicht länger glauben, bei einem solchen Thema reiche es aus, irgendwelche Meinungen abzusondern.
Ich denke in diesem Zusammenhang an die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Er sah sich dazu veranlasst, weil die Themen Naziverbrechen, Schuld und Vergangenheitsbewältigung nicht etwa durch eine gesunde demokratische Gedankenvielfalt weiterentwickelt wurden, sondern in einer unheilvollen Meinungsverwirrung zu ersticken drohten. Nach Weizsäckers Rede war die politische Umgangskultur, was die Nazivergangenheit betraf, eine andere. In Debatten wurde weit seltener als vorher auf Schuld oder der Verleugnung von Schuld herumgeritten. Nun gab es leisere Töne, weniger Vorwürfe und Unterstellungen. Die Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, wuchs. Statt der Frage nach deutscher Schuld stand die Verantwortung im Vordergrund, sprich, die Aufgaben und die Verpflichtungen, die Deutschland aufgrund des Erbes seiner Vergangenheit nun zu übernehmen hatte.
Die Auswirkungen einer großen Rede
Dem Bundespräsidenten war es ganz offensichtlich gelungen, alle Deutschen anzusprechen. Sie fühlten sich in ihrem unterschiedlichen Betroffensein wahrgenommen, auch als Opfer. Darum waren die positiven Auswirkungen seiner Ansprache später in allen gesellschaftlichen Bereichen zu spüren. Als ich die Redekürzlich noch einmal las, kam mir der Gedanke: Hier hat sich jemand berufen gefühlt, als Deutscher den Deutschen zu helfen, aus einem Labyrinth der Emotionen wieder herauszufinden. Er tat es mit der Stimme der Vernunft, mit dem Wissen um völlig unterschiedliche Lebenserfahrungen, mit einem klaren Mitgefühl und mit deutlicher Abgrenzung gegenüber unredlichen Entschuldungstendenzen. Gleichzeitig bestätigte Weizsäckers Erfolg den pädagogischen Lehrsatz, dass man Menschen nur dann erreicht, wenn man sie wirklich wahrnimmt und nicht ihre Bedürfnisse durch moralische Appelle kleinzureden versucht. Der Bundespräsident beherzigte die Einsicht, dass man keine Verhaltensänderung bei seinem Gegenüber bewirkt, solange man ausschließlich auf das schlechte Gewissen zielt.
Die Zeit war reif für Weizsäckers lange Rede. Ich meine, die Zeit heute, fast zwanzig Jahre später, ist reif für eine weitere Rede. Thema: »Über das angemessene Gedenken der Kriegsschrecken in Deutschland«.
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