Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
er war ja Steinmetz.
Anschließend reiste er längere Zeit durch Asien. Nach seiner Heimkehr allerdings empfand er nur noch Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Existenzängste, Bedrohungsgefühle. Ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik half nicht weiter, denn: »Da reißen sie einem blind die Seele auf und lassen einen damit allein.« Danach ging es ihm noch schlechter.
Das Sonderbare war nur, dass er seinen inneren Zustand mit historischen Bildern verknüpfte. Immer wieder tauchte eine Art Schwarz-Weiß-Film in ihm auf: Berlin im Mai 1945, Elend, Schutt, Krater und Asche. Er sieht sich durch die Trümmer irren, entwurzelt, ein Überlebender ohne jede Zukunft. DAS ENDE. DAS DUNKEL. DIE LEERE. DAS NICHTS. Schließlich vertraute sich Michael seinem früheren Therapeuten an, und der sagte dazu: »Sie sind Ihrem Vater im Moment sehr nah.«
Der Sohn kannte dessen Kriegsgeschichten, ziemlich genau sogar. Der Vater war als 15-Jähriger zur Flak gekommen und mit 18 noch eingezogen worden. Bei der letzten Schlacht in Berlin hatte er mitgemacht, beim Häuserkampf, und er hatte seinem Sohn erzählt: »Wenn du dich nach deinen Leuten umgedreht hast, war schon wieder einer tot!« Auch hatte Michael, als er nochKind war, seinen Vater nachts häufiger schreien hören: »Erschieß mich nicht!«
Er stammte aus Pommern. Ein Bruder von ihm war bei der SS gewesen, aber darüber wurde in der Familie geschwiegen. Michaels Großvater war gefallen. – Sein Vater starb 1995.
Die Bilder, die im Jahr 2000 in Michael hochstiegen, bezogen sich nicht auf die Todesangst seines Vaters, sondern auf dessen totale Hoffnungslosigkeit, im Mai 45, nach Kriegsende. »So etwas zeigen sie nicht im Kino«, weiß er. »In den Kriegsfilmen geht es immer nur um die Kämpfe. Ob man überlebt oder nicht.«
Sein Vater, erinnert er sich, sei sehr stolz auf seine Überlebenskunst gewesen. Nach dem Krieg habe er bei der amerikanischen Armee gearbeitet, dann bei Bauern, später ungelernt auf dem Bau. Ein Leben, das nur aus Arbeit bestand, von einer Baustelle zur nächsten. Irgendwann machte er eine Ausbildung zum Kranführer. Auch ein eigenes Haus hat er noch gebaut. Aber dann, mit 49 Jahren, war seine Gesundheit ruiniert, er ging in Rente.
Es klingt so, als habe Michael sein süchtiges Verhältnis zur Arbeit von seinen Eltern »geerbt«, denn er schildert sie als Menschen, in deren Leben außer Arbeit kaum etwas Platz hatte. Möglicherweise hatten sie damit ihre Existenzängste überdeckt, die dann bei ihm wiederaufgetaucht waren. Den Vater seiner Kindheit nennt der Sohn cholerisch und unberechenbar. »Er konnte sehr gewalttätig sein, auch uns Kindern gegenüber. Ich hatte immer Angst vor ihm.« Er sei damals ein Schulversager gewesen – mit Selbstmordgedanken, fügt er noch hinzu. Zwar habe ihn die Mutter ein bisschen getröstet, aber sie arbeitete als Putzfrau und war deshalb meistens unterwegs.
Ab Mitte der Siebzigerjahre saß sein Vater dann als Frührentner zu Hause. Zum ersten Mal im Leben hatte er Zeit für Michael. Da fing der Mann an zu erzählen. Seine ganzen Kriegserlebnisse schüttete er über den pubertierenden Jungen aus. »Er tat es, indem er das Ganze verherrlichte, er hat sich selbst und andere heroisiert«, erinnert sich sein Sohn. »Er war ein Vielredner. Zuhörenwar nicht seine Stärke. Wenn er einmal anfing zu reden, konnte er nicht mehr aufhören.«
Zur selben Zeit, mit 13 Jahren, fing Michael an, regelmäßig zu trinken.
»Wir sind eine heile Familie!«
Als ich an diesem Buch arbeitete, fielen mir immer wieder die Schneiders* ein. In meiner früheren Nachbarschaft wohnten sie zwei Stockwerke unter mir, ältere Leute, die fast täglich von ihren Kindern besucht wurden. Sie waren zwischen dreißig und vierzig Jahre alt.
Vor allem die zwei ältesten Kinder schauten nicht mal eben vorbei, sondern tranken mit ihnen Kaffee und erzählten vom Tage. Sie taten es noch, während sie sich im Flur verabschiedeten. Was für ein ungewöhnlicher Zusammenhalt, dachte ich. Als ich einmal Frau Schneider darauf ansprach, sagte sie strahlend: »Gott sei Dank sind wir eine heile Familie!«
Sie war eine kleine, runde Frau mit grauen Löckchen und schnellen Bewegungen. Unsere kurzen Kontakte erwiesen sich in der Summe als ergiebig, sodass ich nach und nach mehr über die Schneider-Sippe erfuhr. Deren Gespräche drehten sich in erster Linie darum, wie der Alltag zu regeln war. Hilfsbereitschaft war der größte gemeinsame Wert. Niemand wurde im Stich
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