Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
als sie bei ihren Kindern das Bedürfnis entdeckten, neue Erfahrungen zu machen, fremde Verhaltensweisen auszuprobieren, ja wenn der Nachwuchs überhaupt etwas an der Welt da draußen attraktiv fand.
Hanna blieb die brave Tochter. Sie hatte eine »unheimlich ruhige und nicht mal langweilige Jugend«, weil sie gern las und sich hinter den Büchern eine Ersatzwelt aufbauen konnte. Aber es war stets Erfahrung aus zweiter Hand. »Im Grunde genommen bin ich so aufgewachsen – das ist mir heute erst klar geworden – , wie auch meine Eltern lebten. Sie lebten nämlich nur aus zweiter Hand. Meine Mutter las sehr viel, suchtartig, vor allem gehobene Unterhaltungsliteratur. Sie redete niemals von sich aus über das, was sie gerade las, und konnte schon kurz nach der Lektüre Inhalte kaum noch wiedergeben. Gemeinsam guckten die Eltern noch viel fern. Sie reisten wenig, und wenn, dann nur in Urlaubsgebiete, wo Deutsch gesprochen wurde.«
Hanna und ihr Mann dagegen machen gern Auslandsreisen, aber sie sagt, sie vermeide es, den Eltern davon zu berichten. Schon gar nicht dürfe sie so dumm sein, zu Hause zu erzählen, dass sie in Spanien beklaut worden seien. »Da wäre man doch nur selbst schuld: Warum fährt sie auch dorthin, was hat sie dort zu suchen . . .«
Ganz anders die Resonanz in der Familie von Hannas Ehemann. »Ich hab das immer unglaublich beneidet, wie das Klima bei seinen Eltern war«, erzählt sie. »Da wurde mitgedacht. Es wurde nachgefragt. Dieses wirkliche lebendige Interesse, das gab es bei uns nicht. Bei mir saßen dann beide Eltern stumm, guckten so ein bisschen verkniffen über die Fotos und stellten nicht eine sinnvolle Frage, weil sie das auch nicht konnten, denn es lag außerhalb ihres Erfahrungshorizonts.«
Hanna macht ihnen deshalb heute keine Vorwürfe mehr. Sie glaubt, dass die Eltern als Kinder schwer traumatisiert wurden und deshalb nur reduziert am Leben teilnehmen können. Vater und Mutter kommen beide aus Flüchtlingsfamilien, aber die Tochter weiß darüber sehr wenig. »Es gibt keine direkte Kommunikation mit meinen Eltern«, sagt Hanna. Ihre Mutter, 1936 geboren, eine Hausfrau, die sich nie ein eigenes Berufsleben zugetraut habe, sei die Versorgerin der Familie und als solche immer »unheimlich umtriebig«. Wenn die Tochter mal zu Besuchkomme, dann drücke die Mutter ihre Liebe durch kleine Gaben aus.
Es handelt sich um einen Menschen, der stets auf Rückzug bedacht zu sein scheint – eine Frau, die sich selbst mit ihrer besten Freundin siezt. Vor allem möchte sie nicht auf persönliche Dinge angesprochen werden. »Wenn man das tut, wird sie unkonzentriert, dann wird sie auch motorisch sehr unruhig, die Hände beginnen zu arbeiten, zu kneten, als würde sie handarbeiten. Und sie lenkt dann ab«, beschreibt ihre Tochter die Situation, wenn ihre Mutter sich bedroht fühlt. »Also sie fängt dann an, ganz unkonzentriert von etwas anderem zu sprechen. Und das ist halt der Schutz für sie selber und die Waffe gegen solche Fragen.«
Zwei Flüchtlingskinder
Die wenigen Details, die Hanna von der Flucht erfuhr, endeten stets mit dem Zusatz der Mutter, sie sei damals für viele Dinge noch zu klein gewesen und das sei vielleicht auch gut so.
Wie die Tochter durch Berichte von Verwandten weiß, hatte auch ihr Vater während der Flucht Furchtbares erlebt. Später habe sich seine Familie auch in der DDR permanent bedroht gefühlt, weil sie dem politischen Regime zutiefst misstraute. Aber darüber hat sie vom Vater selbst noch nie etwas gehört. Von ihm kennen die drei Kinder nur seine Anekdoten, die ihnen allen schon früh auf die Nerven gingen: wie er sich stets selbst im pfiffigen Widerstand gegen die Mächtigen – in seinem Fall immer die Lehrer – darstellte. Tatsächlich war er ein schwacher Mensch.
»Wir wussten, dass er sich nicht wehren kann«, sagt seine Tochter. »Und dann ist es für Kinder sehr schwierig – ich möchte es mal vorsichtig ausdrücken –, vertrauensvoll groß zu werden. Unser Familienleben spielte sich so ab: stark verriegelt, das Kontrollbedürfnis meines Vaters ging sehr weit; ich lesend in einem Sessel sitzend über Jahre.«
Zwar besaß sie als Kind ein Fahrrad, aber sie durfte es nicht benutzen. Der Schulweg sei zu gefährlich, fanden die Eltern. Hanna war schon über zwanzig Jahre alt, als sie sich endlich traute, ihr Rad auch im Stadtverkehr zu benutzen. »Als ich mich das erste Mal auf dem Rad in die Innenstadt gewagt hatte, waren meine Hände schweißnass,
Weitere Kostenlose Bücher