Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
eskaliert irgendeinKonflikt, und eine ungeheure Zerstörungskraft bricht auf. Unverarbeitete kollektive Traumata können sich in Ressentiments niederschlagen wie auch in blutigen Auseinandersetzungen. Ähnlich wie bei Blindgängern und Giftmülldeponien bestünde verantwortliches Handeln darin, die Gefahr zu entschärfen, bevor sie zum Ausbruch kommt.
Demokratien, sagt man, seien die besten Garanten für ein friedliches Nebeneinander der Nationen, und dies einmal mehr, wenn sie sich zusammengeschlossen haben, wie es in der Europäischen Gemeinschaft geschah. Aber Demokratien müssen stabil sein. Wie stabil die deutsche Demokratie ist, wissen wir nicht, denn sie musste sich gottlob noch nicht bewähren. Aber wir wissen, dass sie jung ist, eine Nachkriegserrungenschaft – und in den neuen Bundesländern noch keine 15 Jahre alt. Schon deshalb brauchen wir ein Bewusstsein für alle gesellschaftlichen Stressfaktoren, damit wir wenigstens solche mildern, auf die wir als Bevölkerung Einfluss haben. Die hohe Arbeitslosigkeit abzubauen oder die leeren öffentlichen Kassen wieder zu füllen gehört zu den Aufgaben der Politik – da kann der Einzelne wenig tun. Anders bei dem Thema, das uns nun während des ganzen Buches beschäftigt hat. Jeder kann in seiner Umgebung dazu beitragen, dass Angehörige der Kriegsgeneration als solche wahrgenommen und ernst genommen werden. Damit wäre schon viel erreicht. Für Solidarität ist es nicht zu spät.
Menschen gelingt es am besten, ihr Leid zu verarbeiten, wenn sie die Unterstützung der Gemeinschaft spüren. Wer dagegen in seiner Opferrolle verharrt, bereitet auch seine Kinder und Kindeskinder darauf vor. Auf diese Weise werden sie anfällig für Manipulationen und eine leichte Beute für politische Rattenfänger. Große Opfergruppen, die ständig jammern, ob versteckt oder offen, schwächen die Demokratie. Ganz anders jene Opfer, die den Mut haben zur Klage und zur Trauer – was etwas ganz anderes ist als Jammern. Ihnen gelingt es am ehesten, ihre persönlichen Krisen zu bewältigen. Und nicht nur das: Nach dem Prinzip der ansteckenden Gesundheit entwickeln sie danach die Fähigkeit,andere Menschen in Krisen zu motivieren, sodass auch diese endlich aktiv werden und sich ihren Problemen stellen.
Nicht jammern – trauern!
Jammern produziert neue Opfer. Trauer ist der Weg zu einer neuen inneren Stärke. Eine Bereitschaft zur Trauer wäre also der allerbeste Schutz gegen einen neuen Opferkult. Sie könnte dazu beitragen, dass wir Deutschen uns nicht länger in Verstrickungen, Schuldzuweisungen, diffusen Ängsten, Selbstbeschwichtigungen und überholten Denkmustern verlieren.
Eine Bereitschaft zur Vernunft würde zudem helfen, die Fakten zu akzeptieren und damit wahrzunehmen, dass die Deutschen in einer traumatisierten Kultur leben.
Zu den Fakten: Dass Nazideutschland Europa mit einem grausamen Krieg überzog und viele Millionen Menschen ermordete – wer, außer einigen alten und neuen Rechtsradikalen, würde das bestreiten? Aber der Konsens über Fakten stößt hierzulande schnell an seine Grenzen – wie es zum Beispiel die schon lange schwelende Auseinandersetzung um das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zeigt.
»Niemandem, erst recht nicht der extremen Rechten, sollte es gestattet sein«, schrieb Antony Beevor, »das Thema des deutschen Leids anno 1945 abzukoppeln davon, was ihm in den vier Jahren davor vorausging und was das Bedürfnis nach Rache an den Deutschen überhaupt erst geweckt hat.« Ich vermute: eine Mehrheit der Deutschen würde Beevor zustimmen, eine Minderheit nicht.
Kommen wir zu dem zweiten Punkt, über den es keine Einigkeit in der Bevölkerung geben wird, auch nicht im Ausland – die sogenannte Vergangenheitsbewältigung. In seinem Buch »Wie anders sind die Deutschen?« stellte der Franzose Alfred Grosser fest: »Von außen wird die Gemeinschaft der Deutschen mit Mißtrauen betrachtet: ist sie sich wirklich ausreichend der im Namen von Deutschland verursachten Leiden bewußt?«
Aber gewss doch, meinte Beevor. »Kein Land hat freilich mehr getan, den Schrecknissen seiner Vergangenheit ins Auge zu schauen als Deutschland. Bis in die jüngste Historikergeneration hinein wird beispielsweise die Quellenlage zu Greueltaten der SS oder der Wehrmacht genauestens erforscht.« Gelegentlich habe so viel Engagement der Geschichtsschreibung nicht nur gut getan, fügte er hinzu. Manche Themen hätten zuweilen eine zu einfache Schwarz-Weiß-Färbung
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