Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
Vom Netzwerk:
stammte aus dem Sudetenland. Als sie fünf Jahre alt war, wurde ihre Familie vertrieben. Ihr Mann, drei Jahre älter, ein schlesisches Flüchtlingskind, überlebte die Zerstörung Dresdens. Wie man sich leicht vorstellen kann, gehörte die Kriegskindheit der Eltern zu den Tabuthemen in der Familie. DieSöhne und die Tochter wären nie auf die Idee gekommen, dass sie durch die Vergangenheit ihrer Eltern belastet sein könnten. Als ich Klaus einmal einen kleinen Hinweis geben wollte, wechselte er sofort das Thema. Offenbar spielte jeder der Schneiders »Blindekuh« – mit schlimmen Folgen.
    Keines der drei erwachsenen Kinder kam zu einem eigenen, selbstständigen Leben. Der jüngste Sohn nahm Drogen, die Tochter betrog ihre Eltern, der Älteste verlor zweimal im Jahr seine Arbeitsstelle, die Mutter drohte ständig mit Tränen, und der Vater würde bald sterben. Und alle hielten sich an der Devise fest: »Gott sei Dank sind wir eine heile Familie!«
Verluste werden nicht betrauert
    Über die Auswirkungen von Krieg, Flucht und Vertreibung hat der Psychologe Wolfgang Neumann, Bielefeld, interessante Entdeckungen gemacht. In seiner wissenschaftlichen Untersuchung, die er »Spurensuche« nannte, ging es ihm darum, unbewusste Einstellungen sichtbar zu machen, die an die Nachgeborenen weitergegeben wurden. Es sind subtil wirksame Folgen der Naziverbrechen, der Nazikultur und des Krieges. Er stellte eindeutige Prägungen in der zweiten und dritten Generation fest – auch dann, wenn die Herkunft und die alte Heimat in einer Flüchtlingsfamilie keine Rolle mehr spielen. »Anstatt zu trauern«, beschreibt Neumann eine typische Situation, »war es den Eltern häufig nur möglich, zu beschuldigen, und damit sind sie in der Opferhaltung geblieben. Das kennt man ja vielleicht selbst auch: Wenn man sich als Opfer fühlt, kommt man schwer an andere Gefühle ran, zum Beispiel an Trauer.«
    Bis dahin klingt alles noch vertraut. Nicht trauern können war das große Problem im Nachkriegsdeutschland gewesen. Weniger bekannt scheint der zweite Aspekt zu sein, den Neumann ausleuchtete. Er stellte fest: Heute sind die Verluste andere, der Arbeitsplatz, die Ehefrau. Die Art und Weise aber, wie mit Verlustenumgegangen wird, ist in Flüchtlingsfamilien häufig weitergegeben worden. Und dies sind dann die Folgen: »Dann ist die Ehefrau, die sich hat scheiden lassen, die Böse, und sie bleibt auch die Böse, sozusagen für immer und ewig. Wenn aber Menschen in dieser Haltung verharren, dann können sie schwere Verluste nicht verarbeiten.«
    Dann bleiben sie stecken. Dann gibt es keine Entwicklung und keinen wirklichen Neubeginn.

VIERZEHNTES KAPITEL
    Ein Plädoyer für Vernunft und Trauer
Wie der Kriegsschrecken gedenken?
    Vernunft und Trauer lassen sich nicht verordnen. Aber man kann dafür werben. Eine Bereitschaft für Vernunft und Trauer wäre nötig, um sich folgenden Fragen zu nähern: Was können wir heute angesichts der noch unverarbeiteten Kriegsschrecken tun? Wie könnte eine öffentliche Gedenkkultur aussehen, die der Katastrophe, aber auch dem heutigen Abstand zur Katastrophe gerecht wird?
    Wir haben es hier mit einem gesellschaftlichen Thema zu tun, das äußerst unbeliebt ist. Wer unvermittelt fragt: Wie könnte man angemessen der Kriegsschrecken in Deutschland gedenken?, stößt schnell auf die Gegenfrage: Haben wir nichts Besseres zu tun? Oder es kommt die Belehrung, man möge bitte beachten, dass die Deutschen wieder auf dem besten Weg seien, sich als Opfer zu stilisieren. Schon wieder wachse – wie in den Fünfzigerjahren – die Gefahr, dass deutsches Leid mit dem der Holocaustüberlebenden und anderer Naziopfer aufgerechnet werde. Also lieber nicht daran rühren.
    Im Gegenteil. Wir müssen daran rühren, nun, da sich zeigt, dass Luftkrieg und Vertreibung die deutsche Bevölkerung untergründig weit mehr beschäftigten, als dies angenommen wurde. Erstens müssen wir uns darum kümmern, damit nicht länger traumatische Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Zweitens müssen wir es tun, um einen neuen Opferkult zu verhindern. Und drittens sind wir dazu verpflichtet, um den Frieden in Europa zu erhalten.
    Der Ausbruch der Gewalt im Balkan in den Neunzigerjahren hat gezeigt, dass das Langzeitgedächtnis für unverarbeitete kollektive Schrecken nachtragend und unberechenbar ist. Fünfzig, sogar hundert Jahre können verstrichen sein, und man glaubt, die Zeit habe alle Wunden geheilt – aber dann

Weitere Kostenlose Bücher