Die verlorene Bibliothek: Thriller
hörte nicht länger das Tuckern des Bootsmotors oder das Plappern der Passagiere. Sie hörte nur noch ihren eigenen Puls, der ihr in den Ohren dröhnte.
Die Treppe runter, weg vom Boot und zum Palast rüber. Die Treppe runter, weg vom Boot und zum Palast rüber … Emily versuchte, sich zu konzentrieren.
Schließlich schluckte sie, atmete tief durch und trat auf die erste Stufe. Den Blick stur geradeaus gerichtet, hielt sie schnurstracks auf die Gangway zu und ging an Land.
Sie dürfen nicht merken, dass du sie entdeckt hast. Das wiederholte sie im Geiste immer und immer wieder und zwang sich weiterzugehen. Ich will verdammt sein, wenn ich ihnen einen Grund gebe, sich auf mich zu stürzen.
KAPITEL DREIUNDACHTZIG
19:15 U HR
Im selben Augenblick, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, drehte Emily sich zu dem riesigen Dolmabahce-Palast links von ihr um und schlenderte gelassen in seine Richtung, als wäre nichts geschehen. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, dass sie immer von möglichst vielen Leuten umgeben war.
Wenn ich es reinschaffe, kann ich sie dort abhängen.
Emily versuchte, sich mit der Tatsache zu trösten, dass diese Männer sie schon mindestens seit ihrer Ankunft in der Türkei verfolgten. Und das hieß, dass sie auch im Topkapi in ihrer Nähe gewesen waren. Aber sie hatten ihr nichts angetan. Ja, sie hatten sie noch nicht einmal gestellt. Emily betete, dass das auch so bleiben würde.
Verhalte dich einfach unauffällig , ermahnte sie sich. Wenn sie glauben, dass du ihnen auf die Schliche gekommen bist, könnte sich das alles ändern.
Emily bemühte sich, mit den anderen Passanten zu verschmelzen.
Der Weg zum Palast dauerte nur wenige Minuten. Emily reckte den Hals, um ihn in seiner Gesamtheit zu erfassen. Dolmabahce musste man wirklich gesehen haben. Trotz ihrer Angst konnte Emily nicht anders, als zu staunen.
Sie folgte den Schildern zum Haupteingang des Palastes. Das Tor stand offen, und das Licht war angeschaltet und hieß Nachzügler für den Event des heutigen Abends willkommen. Als sie näher kam, verlangsamte Emily ihren Schritt noch mehr, strich ihren Designerblazer glatt und band sich das leicht zerzauste
Haar zu einem anständigen Pferdeschwanz zurück. Ob sie in diesem Zustand wohl als Akademikerin durchgehen würde, die sich für die französisch-türkischen Beziehungen interessierte? Sie hoffte es.
Ein kleiner antiker Tisch diente als Empfang, und Emily zahlte ein exorbitantes Eintrittsgeld für den Vortrag. Höflich entschuldigte sie sich bei der Empfangsdame für ihr Zuspätkommen, doch die schien das nicht im Mindesten zu interessieren. Also nahm Emily schlicht ihre Eintrittskarte und ging hinein.
Wie erwartet war sie sofort überwältigt. Der Eingangsbereich betörte alle Sinne. Der Raum war gewaltig und wurde rechts und links von großen Treppen eingerahmt. An den Wänden hingen prachtvolle Gemälde und an der Decke mächtige Leuchter. Bei diesem Anblick kam Emily der Luxus, den sie in der ersten Klasse des Flugs nach Alexandria genossen hatte, gar nicht mehr so luxuriös vor.
Doch schließlich riss sie sich von der Pracht um sie herum wieder los und folgte den anderen Nachzüglern zu einem ebenso atemberaubenden Versammlungsraum. Die Stühle dort waren mit rotem Samt gepolstert, und fast auf jedem saß bereits ein Gast. Auf einem eleganten Podium redete ein Mann auf Französisch. Der Vortrag schien bereits begonnen zu haben.
Doch kurz bevor sie den Raum betrat, setzte Emily ihren Plan in die Tat um. Plötzlich ›erinnerte‹ sie sich daran, dass sie ja noch mal rasch auf die Toilette musste, und so fragte sie den Portier nach dem Weg.
»Zwei Türen weiter, auf der rechten Seite«, sagte der Mann.
Emily ging dorthin. Doch als sie sah, dass niemand sie beobachtete, huschte sie rasch um die Ecke und verschwand in den dunklen Gängen jenseits davon.
KAPITEL VIERUNDACHTZIG
D OLMABAHCE -P ALAST – 19:27 U HR
Wenige Augenblicke später war Emily in den riesigen dunklen Gängen des Dolmabahce-Palastes allein. Der Dolmabahce war der größte Palast der Türkei und stellte Emily somit vor eine noch größere Herausforderung als die riesige Bibliotheca Alexandrina. Irgendwo auf den einhundertzehntausend Quadratmetern hier hatte Arno Holmstrand einen Hinweis für sie versteckt.
Emily wanderte durch die Gänge und Räume des Hauptgebäudes, und ihr Herz raste nicht nur aus Angst vor den Männern, die ihr auf den Fersen waren, sondern auch aus Ehrfurcht vor
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